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Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)

Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)

Titel: Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole Krauss
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konnte den Gedanken nicht ertragen, sie habe ihre alten Tage allein verbracht, sich vielleicht auch in sich zurückgezogen und ins Leere gestarrt. Wer immer der Sohn war, der seine Mutter langsam in die mittleren Jahre hatte kommen sehen; der erwachsen geworden, aufs College gegangen war und sie regelmäßig angerufen hatte; der später wegzog und sie gelegentlich besuchte, mitleidig die kleinen Demütigungen des Alterns registrierte; der den Anruf bekam, sie sei krank, und hinflog, um bei ihr zu sitzen und zu wachen, während der Krebs rasche Fortschritte machte; wer immer es gewesen sein mochte, der seine Mutter aus der Welt scheiden sah und sie begrub, war jetzt ebenso unerreichbar wie sie.
    Aber was, fragte sich Samson, ist das Leben ohne einen Zeugen?
    Er empfand ein überwältigendes Bedürfnis, seiner Mutter nahe zu sein. Er fragte sich, wo sie begraben sei. Wie konnte er nicht wissen, wo seine eigene Mutter unter der Erde lag? Sie hatte nie das Haus verlassen, in dem er aufgewachsen war; so viel hatte er Annas Erzählungen entnommen. Vermutlich hatte er sie auf einem nahe gelegenen Friedhof begraben. Wie schwierig mochte es sein, sie zu finden? Gab es keine Dokumente über solche Dinge, die grasbedeckten Flecken, von Söhnen abgesteckt, um die Frau zu begraben, die sie unter Schmerzen auf die Welt gebracht hatte? Er würde ihr Grab finden, und wenn er es gefunden hatte, Fleisch von ihrem Fleisch, würde er auf die Knie fallen und um sie trauern. Er würde sich niederlegen, die Augen schließen und, den Körper an den Boden gepresst, letztes Zeugnis ablegen.
     
    Die Busroute endete auf einem Parkplatz am Strand. Möwen saßen auf verrosteten Metallpfosten, aufgeplustert und unerschütterlich. Samson rüttelte Pip wach. Ihr Kopf rollte zurück, und sie schlug die Augen auf. Er verspürte den rastlosen Schwung eines Mannes, der jahrelang eingesperrt gewesen war und obsessiv von nichts anderem phantasiert hatte als von einem freien Blick. Am liebsten hätte er Pip gepackt, sie huckepack genommen, wäre mit ihr zum Meer hinuntergerannt und hineingesprungen, um ihnen beiden eine salzige Taufe zu gönnen. Stattdessen streckte er nur die Hand aus, strich ihr kurzerhand das Haar aus den Augen und klemmte es hinter ein Ohr. Pip kniff die Augen zusammen, aber sie protestierte nicht.
    Draußen auf dem Parkplatz blinzelten sie ins Licht und atmeten die Küstenluft und den Baumgeruch Kaliforniens, den erfrischenden Pazifik, in dem Pip bald von allem reingewaschen würde außer von der Liebe Gottes. Danach hieße sie Patricia. Die Vergangenheit würde unter einem anderen Namen fortleben.
    Sie wurde erwartet. Eine von der Chapel geschickte Frau mit grau melierten Zöpfen stand winkend vor einem Kleinbus mit dem Aufkleber Ich bremse für Wunder. Als Abschiedsgeschenk gab Pip ihm die Bibel und knickte Eselsohren in die Seiten über Samson. Er nahm die Kamera, die noch um seinen Hals hing, und hängte sie um ihren. Sie lächelte, er lächelte zurück, und einen Augenblick studierten sie einander mit der unbeholfenen Schüchternheit von Menschen, denen plötzlich bewusst wird, wie wenig sie sich kennen. Etwas in ihm wollte sie nicht gehen lassen, wollte sie begleiten, über ihren Schlaf wachen und sie vor Unheil schützen, wie er es bei Anna nicht vermocht hatte. Er wollte ihren schmalen, knochigen Körper in die Arme nehmen und sie sicher in ein neues Leben tragen.
    Aber er tat es nicht, und schließlich zuckte Pip die Achseln und ging auf den Kleinbus zu. Die Frau umarmte sie, als wären sie alte Freunde. Pip ließ es sich gefallen, dann warf sie ihren Rucksack ins Auto und kletterte hinterher. Als sie abfuhren, drehte sie sich um und winkte durchs Fenster, und Samson hob die Hand zu einem Gruß.

E s gab etwas, was er als Kind gern getan hatte, um sich zu beruhigen: im Bett liegen und sich vorstellen, was andere Leute im selben Moment taten. Er erlaubte seiner Phantasie, zu schweifen, durchs Fenster hinaus und die Straße hinunter, über Bäumen und Dächern zu schweben wie einst sein Großonkel Max, in seiner Jugend, im Heißluftballon über der italienischen Stadt. Er verweilte vor dem oberen Fenster des Nachbarhauses, wo Mr.   Shreiner im blauen Schein des Fernsehers seinen Golfschwung übte. Dann ging es weiter, bei den Sargents vorbei, deren ältester Sohn Chuck eines Winters unter geheimnisvollen Umständen aus dem College nach Hause zurückgekehrt war. Mrs.   Sargent erzählte, er schreibe ein Stück, und Samson

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