Kommt Schnee
Amadio es von ihrem Sohn zum 80sten Geburtstag geschenkt bekommen hatte.
»Darf ich Ihnen etwas anbieten? Einen Tee vielleicht?«, fragte die Rentnerin.
»Nein. Danke. Sehr nett«, antwortete Baumer gleich für beide.
»Nicht? Vielleicht später?«
»Später vielleicht. Danke.«
Die Großmutter schleppte sich einen Stuhl vom Esstisch herbei, noch ehe Heinzmann aufspringen konnte, um ihr zu helfen, und setzte sich, indem sie einen tiefen Bückling machte und den Stuhl an ihre Knie heranzog. Dann fiel sie wie ein Mehlsack auf den Sitz.
»So«, sagte die Frau, als sie sich unter vielfachem Drehen und Winden in eine bequeme Position gebracht hatte. Ihre Unterschenkel standen dabei im 45-Grad-Winkel ab und die Füße schwebten zwanzig Zentimeter über dem Boden.
Baumer sagte nichts, schaute die Frau nur freundlich an. Sie lächelte zurück, blinzelte. Baumer strahlte.
Heinzmann hingegen bemerkte darin nur ein nervöses Zucken der Augen der Frau. Magnesiummangel, ging es ihm durch den Kopf. Er begann das Gespräch: »Frau Amadio. Mein Kollege, Kommissar Baumer, ermittelt in der Geschichte, in die Toni Herzog verwickelt ist.«
Die Frau schlug die von Gicht verknorpelten Hände zusammen wie es geistig Behinderte beim Singen tun. Aber sie war ganz und gar nicht fröhlich. »Ach, diese Geschichte. Das tut mir so leid. So ein schönes Mädchen.«
Heinzmann und Baumer tauschten einen raschen, irritierten Blick.
Die Alte sprach weiter. »Der Toni tut mir so leid. Ich kannte ihn schon, seit er ein Bub war. Und die Madi war auch sehr nett.«
»Madi?«, fragte Baumer.
»Madi. Seine Freundin.«
Heinzmann, dessen Gewicht ihn tief in die Ledergarnitur gedrückt hatte, rutschte umständlich nach vorn. »Madi. Ja?«, sagte er gepresst.
»Sie waren so ein nettes junges Paar. Wissen Sie. Nicht so wie die anderen jungen Schnösel. Klar. Laute Musik und in der Nacht Gerumpel. Junge Leute halt. Aber das stört mich nicht. Ich war auch mal jung.« Dabei hob sie ihren kleinen Schädel, der von faltiger Haut und schütterem Haar bedeckt war, zwinkerte mit ihren Augen und strahlte ihre große Jugendliebe an, die sie zum Tanz aufforderte. Dann verschwand diese Erinnerung so rasch, wie sie gekommen war. Frau Amadio, geborene Meier, fasste sich. Sie schaute wieder zu den Polizisten. »Heute morgen habe ich es dann im Radio gehört. Wissen Sie, ich war noch gestern in Rheinfelden beim Kuren. Und dann sind auch schon Reporter aufgetaucht. Einer war ganz penetrant. So ein Hallodri aus Zürich mit einer schrecklichen Brille. Der sah aus wie ein Zuhälter. Aber ich habe ihm nichts über Toni und Madi gesagt. Ich wusste schon, was der wollte.«
»Was wollte er?«, fragte Baumer.
»Was er wollte. Pah! Ich bin alt, aber nicht blöd. Ich sage nichts Schlechtes über Toni. Ich sage gar nichts. Diese Typen von den Blättern mit den großen Buchstaben schreiben sowieso nur, was sie wollen.«
Baumer betrachtete den Unterarm der Frau. Elle und Speiche traten deutlich hervor. Befleckte Pergamenthaut lag über den beiden Knochen. Darunter hingen schlaffe Muskeln. Wenn sie den Unterarm bewegte, sah es aus, als ob ein paar Deziliter Wasser darin hin und her schwenken würden.
Die alte Frau sagte: »Toni war immer nett zu mir. Einmal hat er mich sogar mit seinem Motorrad gefahren. Nur langsam natürlich, aber hui, das hat mich fast vom Sitz gerissen. Ich sage nichts Schlechtes über ihn. Dass er ausgerastet ist, kann ich gut verstehen.«
Heinzmann hingegen konnte es nicht verstehen. »Sie rechtfertigen seine Tat?«
»Rechtfertigen? Lieber Herr Polizist,« sie räusperte sich, »ich bin 84 Jahre alt. Ja. Da staunen Sie, was?« Sie lächelte verschmitzt. Dann wurde sie wieder ernst: »In meinem Alter sieht man die Dinge einen Schlag abgeklärter als junge Menschen wie Sie. Ich rechtfertige die Tat nicht. Aber ich verstehe sie.«
Keiner sagte mehr etwas. Alle drei saßen da, jeder in eigene Gedanken versunken.
Baumer richtete sich als Erster wieder auf. »Warum verstehen Sie seine Tat?« Eine simple Frage, deren Antwort Baumer möglicherweise zeigen könnte, warum ein junger Mann ein zufälliges Opfer in zwei Teile schneidet.
Die alte Frau antwortete mit klarer Stimme. »Wer würde ihn nicht verstehen?«
»Hhmm?«, sagte Baumer.
»So ein schönes, nettes Mädchen.«
Baumer sagte nichts.
Heinzmann begann mit dem rechten Zeigefinger auf sein Knie zu tippen. Er dachte: »Komm schon, komm schon, komm schon. Sag’s endlich!«
Die Alte
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