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Kommt Schnee

Kommt Schnee

Titel: Kommt Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Aeschbacher
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in sich zusammengefallen und in Zeitlupe. Es kostete Andi Baumer unendlich viel Kraft, den einen Fuß vor den anderen zu setzen.

    *
    Am nächsten Morgen war Andi Baumer spät auf den Beinen. Er war in der Nacht immer wieder aufgewacht. Wahrscheinlich ließ ihn der Wetterwechsel unruhiger schlafen als üblich. Als der erste Sonnenstrahl ins Zimmer gefallen war, schreckte er auf und konnte kaum wieder einschlafen. Später packte ihn doch noch einmal eine bleierne Müdigkeit, und er fiel in komaartigen Schlaf. Um 9 Uhr wachte er gerädert auf. Er wusch sich und zog sich an.
    Auf dem Weg in die Stadt telefonierte er mit Heinzmann per Handy. Er erfuhr, dass Heinzmann im Dauereinsatz stand und bisher noch keine Chance hatte, das Mädchen zu besuchen. Er würde dies nachholen, sobald seine Schicht vorbei wäre.
    Als Baumer ins ilcaffè kam, bediente Gianni ganz allein. Zwei Sachen waren auffällig. Erstens. Gianni begrüßte Baumer freundlich, aber nicht überschäumend. Das allein war schon seltsam, denn meist sprühte Gianni vor Freude und Glück. Zweitens. Gianni trug eine Sonnenbrille, die Danner zur Ehre gereicht hätte. Doch er trug nie eine Sonnenbrille. Schon gar nicht im Winter in einem Innenraum.
    »Was ist passiert?«, fragte Baumer, der selten mit Leuten sprach, wenn er nicht musste. Musste er jetzt?
    Gianni erwiderte nichts, sondern versuchte zu lächeln. Seine Unterarme schwang er im Kreis vor seiner Brust nach außen. Er stoppte diese Bewegung so, dass es aussah, als würde er auf seinen Handflächen ein imaginäres Tablett balancieren. Er legte seinen Kopf zur Seite. Sein Mund war geschürzt.
    Baumer schaute ihn an. Gianni seufzte.
    Dann nahm Gianni die Brille ab. Baumer sah zwei große Tränen über Giannis Wangen rollen. Giannis rechtes Auge war dunkelblau unterlaufen. Im Weiß des Augapfels trat ein Netzwerk von roten Äderchen hervor, es sah aus wie ein roter Netzstrumpf der die weißen Beine einer Bordsteinschwalbe dekoriert.
    Gianni zitterte. »Ein FCB-Veilchen. Schön. Nicht wahr? Rot ist unsere Liebe. Blau unsere ewige Treue.«
    »Woher hast du das?«
    »Von einem Fan von mir.« Er lachte bitter und zeigte Andi Baumer für einen ganz kurzen Moment, wie es hinter seiner Fassade aussah. Baumer spürte in diesem intimen Augenblick große Empathie für diesen Menschen. Eine Empfindung, die viele nicht mehr zu kennen scheinen.
    »Was ist passiert?«, fragte Baumer verwundert und Gianni erzählte, dass er im Schützenmattpark gewesen war.
    »Na ja, du weißt schon. Seit dort die Büsche abgeholzt worden sind, ist man leider ein wenig auf dem Präsentierteller. Und da war halt dieser Dicke. Bomberjacke und FC Basel Mütze. Ein freundlicher Mann.« Gianni lachte ein kurzes bitteres Lachen. »Geredet hat der nichts«, fuhr Gianni fort. »Er hat mir einfach direttamente eine abgedrückt. Das hat unglaublichen Spaß gemacht«, versuchte Gianni durch Ironie Abstand zu seinem Erlebnis zu gewinnen. »Dann ging es dem Super-FCBasler offenbar besser, denn danach hat er gesprudelt wie ein Bach und mich zugetextet. Ich wusste gar nicht, wie viele Kosenamen auf uns passen.«

    Uns.

    Baumer ging bis zur Öffnung im Tresen. Hinter den Tresen wäre er nicht gegangen, denn das war Giannis privater Schutzraum. Gianni kam an die Öffnung und fiel kraftlos in Baumers starke Arme. Fast knickte er ein, aber Baumer hielt ihn fest umschlungen. Gianni heulte los, schluchzte und benässte Baumers vorstehenden Kragen seines 320 Franken teuren, bestickten Versace-Hemdes. Auch bei Baumer flossen Tränen. Zusammen weinten sie um den Verlust der Welt. Der eine mehr. Der andere weniger.
    Dann strich der Basler Kommissar dem Basler Barbesitzer sachte über den Rücken, ließ seine Hände auf den Schulterblättern von Gianni liegen, packte ihn dann brüderlich an beiden Armen und schaute ihm in die Augen. Beide sagten nichts. Dann lösten sie sich voneinander.
    Gianni ging zum Tresen und schnappte sich eine Serviette. In diese schnäuzte er sachte. Dann nochmals, ein wenig stärker, so wie Greta Garbo sich schnäuzen würde. Schließlich zerknüllte er das Papier achtsam und warf es feierlich in den Mülleimer.
    »So. Mein liebster Freund«, richtete sich Gianni wieder freundlich lächelnd an Baumer. »Was darf’s sein? Zwei Espressi? Super geile Espressi? Kommt subito. Ich mach sie dir so stark wie der Vesuv in Bella Italia?« Damit ging er zur Cerrutti-Kolbenmaschine, merkte aber, dass er die Sonnenbrille abgesetzt hatte. Also packte

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