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Kommt Schnee

Kommt Schnee

Titel: Kommt Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Aeschbacher
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toter Lebender? Der Kommissar wusste, dass dieser Boban Stankovic eingefroren war. Dort in einer Kühlbox im gerichtsmedizinischen Institut. Er war ebenfalls in diesem Bild eingefroren. Schockgefroren in einer Position des Glücks. Er würde ewig glücklich sein. Umarmt von Freunden und seiner Familie. Liebkost von seiner Mutter, seiner Schwester, seiner Freundin.
    »Möchten Sie etwas trinken?«, fragte eine Stimme hinter ihm. Er schaute sich um. Nach und nach hatte sich die ganze Familie in dem kleinen Wohnzimmer versammelt, Junge und Alte, Männer und Frauen.
    »Nein, danke«, antwortete Baumer.
    »Was trinken Sie? Nehmen Sie ein Bier?«, stimmte die Mutter nun ein.
    »Ich danke, aber ich habe gerade etwas getrunken.«
    »Vielleicht Wasser? Mila, bring Wasser für den Herrn Polizisten. Und du, Dejan, du nimmst doch sicher noch ein Bier? Ja, gut. Milan? Kaffee? Gut! Kommt sofort.«
    Hinter Baumer kam Bobans Schwester hervor und sagte zu ihrer Mutter: »Warte, Majka, ich helfe dir.« Dann fragte sie Baumer: »Möchten Sie ein Stück Kuchen?«, wartete seine Antwort aber nicht ab. »Ich bringe Ihnen ein Stück.«
    Baumer starrte auf den rotbäckigen, jungen Mann, der ihn aus dem Fotorahmen heraus glücklich anlachte. Ein schwarz behaarter Arm kam ins Baumers Blickfeld und die Hand am Arm packte das Bild, hielt es Baumer von links dicht vor die Nase. Eine erregte rumpelnde Stimme, der man den übermäßigen Konsum filterloser Zigaretten anhörte, sagte: »Schaue du ihn an. Ja. Hier. Schaue du nur ganz genau. Das ist mein Neffe. Boban Stankovic. Tot von eine Schweizer.«
    Eine andere Hand, an ebenso behaartem Arm, der selbst jetzt im Winter noch tief gebräunt war, kam von der rechten Seite ins Blickfeld, fasste auch ans Bild. »Lass gut sein, Dejan«, sagte die Person, der der Arm gehörte und der versuchte, das Bild dem anderen behaarten Arm wegzunehmen. »Der Polizist ist hier, um das Verbrechen aufzuklären.«
    Der linke Arm ließ das Bild jedoch nicht los und zog es gewaltsam auf seine Seite. »Der war doch da, dieser ...« Das Wort Scheißpolizist, Wichser, Hurensohn, Gauner, Schweizer, Kuhschweizer zerknirschte er in seinem Mund zu Brei, spuckte es aber nicht aus.
    Boban Stankovic wurde vor Baumer von seinen Onkeln hin- und hergezogen. Er lachte dabei wie ein Kind auf einer Schaukel.

    Hin und her.

    Als der Mann von rechts den Kampf für sich entschieden hatte und der glückliche Boban endlich zurück auf den Fernseher gestellt worden war, lachte der für ewig jung Bleibende noch immer und schien zu kreischen: »Hey, das hat Spaß gemacht. Noch einmal! Noch einmal!«
    »Bitte entschuldigen Sie meinen Bruder, Herr Baumer«, sagte der Mann rechts von Baumer, während der Mann links von weiteren männlichen und weiblichen Händen zurückgezogen wurde.
    Baumer sagte nichts.
    Insgesamt waren in dieser kleinen Stube nun acht Personen versammelt. Baumer saß im größten Sofasessel, der prominent vor den Fernseher gestellt war. Die restlichen Leute, Verwandte der Familie, saßen eng aneinander gepresst auf dem Sofa, kauerten verkrümmt auf der Sofalehne, hockten auf kleinen hinzugestellten Schemeln. Der Vater Bobans hingegen war nicht anwesend. Er war seit langem tot und war nur noch als kleines Portrait präsent. Er lebte im Sonntagsanzug, nahezu schamhaft versteckt im Büchergestell, eingerahmt und vergilbt zwischen allerlei Klimbim, Nippes, Porzellanfigürchen. Bücher standen nur wenige im Regal. Sie trugen kyrillische Buchstaben. Baumer fragte sich, ob die Bücher echt waren.
    »Unser Neffe ist tot. Ermordet. Bitte verstehen Sie, dass wir traurig sind. Er war so ein lieber Kerl.«
    Bei diesem Satz ging ein leises Schluchzen los. Dann begann ein Durcheinander an Sätzen, die zuerst alle auf Baumer gerichtet waren, manche in gebrochenem Hochdeutsch, manche in gebrochenem Schweizerdeutsch, manche in einer Mischung aus beidem. Dann sprachen die Leute sich gegenseitig an. Jetzt immer auf Serbisch. Worte flogen durch den Raum, die Baumer nicht verstand. Diese Sprache war zu weit entfernt von seiner eigenen, als dass er einen Anhalts- oder Vergleichspunkt gehabt hätte, um nur ein einziges Wort zu verstehen.

    Dobar Dan.

    Das hätte er verstanden, denn es war der Titel der halbstündigen Sendung, die vor 30 Jahren immer samstags über den Bildschirm flimmerte. Dobar Dan heißt Guten Tag, und die Sendung war für die jugoslawischen Einwanderer bestimmt, die damals in Scharen ins Land kamen. Am Samstagmittag um halb zwei

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