Kommt Schnee
Der Schnee kommt dieses Jahr in Massen.« Freundlich nickte er Baumer zu und ließ seinen Arm in Zeitlupe sinken.
Der Kommissar antwortete nicht. Er sprang urplötzlich auf und stürzte aus der Hauptpost, den einsamen Mann enttäuscht zurücklassend.
Vor der Hauptpost wurde der Kommissar von einer Hand an seinem Oberarm abrupt aus seinem Schwung gerissen und herumgedreht. Baumer erschrak, er sah in die Augen einer Fliege. Es war Danner, dessen Augen im fahlen Winterlicht hinter den dunklen Brillengläsern völlig verborgen waren. Es sah aus, als inspiziere er mit zwei riesigen Insektenaugen seine Umwelt.
»Hallo, Baumer«, freute sich Danner.
»Keine Zeit jetzt«, blaffte Baumer zurück.
»So, so, das ist ja mal was Neues«, machte sich Danner lustig. Den Griff um Baumers Arm ließ er nicht locker. »Du denkst doch hoffentlich ab und zu an mich.«
»Ich denk an dich«, brummte Baumer und versuchte den Journalisten abzuschütteln. Der klebte an ihm wie die stacheligen Knöpfchen einer Klette am Fell eines Bären.
»Gibt’s was Neues, Baumer?«, insistierte der Blick-Journalist und ließ sich vom Basler Kommissar, der sich Richtung Barfüsserplatz bewegte, mitziehen. »Uns gehen langsam die Homestorys aus. Tote Serben sind nicht so sexy, und das Mädchen wird vor uns immer noch abgeschirmt. Los sag. Was läuft?«
Baumer blieb stehen, drehte sich zu Danner.
»Hör zu. Danner. Ich denk an dich.«
»Das freut mich.«
»Ich denk an dich, Danner«, wiederholte Baumer und trat nah an den Journalisten, der sich immer noch so kleidete, als wolle er zum dandyhaftesten armen Studenten der Universität Basel gewählt werden. »Hör zu, Danner. Bald gibt’s News. Du erfährst es als Erster.« Dann drehte er sich um, rauschte ab.
Danner blieb stehen. Ein wenig erstaunt. Irritiert. Er wusste nicht, ob er sich freuen oder ärgern sollte. Baumer hatte ihn noch nie angelogen. Er vertraute Baumer. Bald würde es News geben. Doch wie ein Reflex kam ein Schmerz aus seinen Eingeweiden wieder hervorgekrochen. Es war der Schmerz desjenigen, der zu oft angefeindet und hinters Licht geführt wurde. Ein Schmerz, der immer ausstrahlt und alles Vertrauen vergiftet. Rolf Danner sah dem Kommissar nach, rief ihm hinterher: »Verarsch mich nicht!«
Baumer hörte es nicht mehr. Er lief eilig die Falknerstraße hinauf, vorbei am ilcaffè. Als er sah, dass Heinzmanns Wagen nicht mehr da war, lief er weiter zum Barfüsserplatz. Vorn am Brunnen, direkt nach dem Marronistand, warteten Taxis. Er stieg ins Erste ein und befahl: »Migros Gundeli! Schnell.«
Der Taxichauffeur legte seine Zeitung, die er gelesen hatte, sorgfältig zusammen und schaltete den Taxameter an.
»Los, Mann! Gib schon Gas!«, forderte Baumer unwirsch zur Eile.
»Weiß ich scho, was muss ich tun.«
Baumer dachte: Der redet wie die Serben. Nimmt das Verb zuerst, dann das Subjekt. So tönte es wie eine Frage. Muss ich gehen. Aber das war keine Frage. Es war ein korrekter Satz. Genau in dieser Art hatte auch Heberlein geredet. Muss in Migros. Es war keine Frage, es war eine Aussage! »Muss in Migros« bedeutete: »Ich muss in die Migros.« Vielleicht meinte Heberlein damit auch: »Du musst in die Migros.«
»Muss in Migros. Muss in Migros.« Dieser Satz von Heberlein pochte in Baumers Kopf. Er war sich jetzt sicher, dass Heberlein damit ganz einfach sagen wollte: »Baumer. Komm mit mir mit in die Migros!«
*
Zehn Minuten später hatte Baumer die Gelegenheit, den Autisten zu fragen, ob er die Zusammenhänge richtig gesehen hatte. Im Gundeldingerquartier angekommen, hatte er sich ins Migros-Einkaufszentrum begeben. Vor dem Eingang zum Restaurant blieb er stehen. Er spähte vorsichtig in den Raum, sodass ihn keiner, der drinnen saß, sehen konnte. Der Raum war zu sechzig Prozent gefüllt. Hinten, nahe den Fenstern, saßen die Rocker, so wie es Heinzmann schon berichtet hatte. Einen davon kannte Baumer. Es war der Gorilla, der ihm in der Garage von Tonis Gang an die Gurgel gewollt hatte. Mit ihm saßen vier weitere Mitglieder der Gang zusammen. Auf den Lederjacken derjenigen, die ihm den Rücken zudrehten, sah Baumer den von einem Dolch mit gelbem Griff durchstoßenen Totenkopf prangen. Darüber krümmte sich der Namenszug der Gang in Runenschrift. Deadly Skull’s. Der falsch gesetzte Apostroph leuchtete in Rot und sah wie ein mit Blut verschmierter Krummdolch aus. Um die fünf Skulls herum gab es eine Art Niemandsland. Die Tische nahe den Rockern waren unbenutzt.
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