kommt wie gerufen
Der Berg baute sich wie eine Wand vor ihr auf. Sie nahm an, daß diese Schutthalde, auf der sie stand, und in die sich die beiden bunkerähnlichen Gebäude krallten, auf eine Naturkatastrophe zurückzuführen war. Vermutlich war es hier vor langer Zeit zu einem Erdrutsch gekommen, oder eine Steinlawine hatte jedes Wachstum vernichtet. Eines stand jedenfalls fest: Über diesen Gipfel gab es keinen Fluchtweg nach Jugoslawien. Die einzige Möglichkeit lag im Westen längs der Straße, die sie gekommen waren, oder unten durch das Tal.
Flucht… Zum erstenmal gestand sie sich das Ziel ihres Denkens ein, und da sie im Geist endlich das Wort geprägt hatte, holte sie es jetzt hervor und wendete es nach allen Seiten. Flucht… Die Idee war völlig verrückt. Sie gab das bereitwillig zu, aber man mußte doch wenigstens den Versuch machen, oder nicht? Sie empfand es als unverzeihliche Charakterschwäche, einfach untätig dazusitzen und auf die Hinrichtung zu warten. Nicht, daß sie so übermäßig viel Charakter hatte, dachte Mrs. Pollifax. Es war ihr nur schon immer schwer gefallen, sich widerspruchslos mit einer Gegebenheit abzufinden. Die Liste ihrer kleinen Revolten war endlos. Da war doch bestimmt noch Raum für eine mehr?
Sie lächelte und winkte Lulasch zu und setzte sich auf einen großen Felsblock in der Nähe des Abgrundes. Mit dem Rücken zu Lulasch zog sie vorsichtig das Buch unter ihrem Arm hervor. Sie hatte die Seite mit der Landkarte bereits markiert und schlug sie jetzt ohne jedes Suchen auf. Ein Tal, alpine Felsen und ein Fluß… richtig, der Fluß verlief genau dort, wo er hingehörte. Sie ging von der Annahme aus, daß ihre Himmelsrichtungen stimmten, und verglich flink den Verlauf des Flusses im Tal mit der in der Karte eingezeichneten Linie.
»Die Drina!« rief sie zufrieden aus und prägte sich den Namen ein.
Laut Maßstab der Karte war die Drina etwa fünfzehn Meilen von hier entfernt, und wenn ihr Orientierungssinn sie nicht täuschte, dann floß sie in westlicher Richtung zur Adria.
Mrs. Pollifax ging zu Lulasch zurück und erkundigte sich liebenswürdig: »Die Stadt mit dem Flugplatz – ist das Skutari, Ihre Hauptstadt?«
Sein Gesicht leuchtete auf. »Ah, ich sehe, daß Sie mein Buch wirklich lesen. Nein, sie ist nicht mehr die Hauptstadt und heißt auch nicht mehr Skutari«, sagte er. »Jetzt heißt sie Shkodra. Aber das Flugfeld ist dort, im Norden.«
»Es ist eine wahre Fundgrube«, teilte Mrs. Pollifax ihm aufrichtig mit. »Ich hoffe, noch recht viel aus Ihrem Buch zu lernen. Entschuldigen Sie mich jetzt, aber ich glaube, ich gehe lieber wieder – diese Sonne, die Hitze…« Zimperlich drückte sie die Hand an die Stirn und brannte schon darauf, wieder in der Zelle zu sitzen und anhand der Karte neue Berechnungen anzustellen.
Lulasch riß ihr galant die Tür auf, ehe er sich wieder auf seiner Bank niederließ.
Von dem kurzen Ausgang bedeutend erfrischt, trat Mrs. Pollifax in die Kühlhaustemperatur des Steinbaues und schloß die Tür hinter sich. »Oh, verzeihen Sie«, sagte sie, denn Major Vassovic kniete in einer Ecke auf dem Fußboden. Sekundenlang fragte Mrs. Pollifax sich, ob sie den Major beim Gebet unterbrochen hatte, aber dann fiel ihr ein, wo sie war, und sie verwarf diesen Gedanken. Die Neugier ließ sie nähertreten. »Ist das eine Yogaübung, die Sie da machen?« fragte sie.
»Zott, nein«, antwortete er verdrossen.
Mrs. Pollifax hatte inzwischen gelernt, daß Zott von dem Wort Zeus stammte und ein beliebter Ausruf in diesem Lande war. Daran zumindest hatte sich seit 1919 nichts geändert.
»Die elektrische Leitung… es existiert nur die eine – ah! Jetzt habe ich sie!« Umständlich stellte der Major sich auf und als er bemerkte, daß sie ihm noch immer zusah, sagte er: »Für meinen Wärmeziegel. Der Strom ist hier sehr schwierig.«
»Das kann ich mir denken«, pflichtete sie ihm bei. »Woher beziehen Sie denn den Strom? Doch nicht aus dem Tal?«
»Nein«, sagte er und entwirrte das Kabel, das vom Boden zu seinem Schreibtisch führte. »Wir haben, wie nennen Sie das, eine große Maschine im anderen Haus. Aber hier nur den einzigen Draht.«
»Oh, ein Dynamo. Wie schlau von Ihnen. Und das ist Ihr Wärmeziegel?« Sie streckte den Arm aus und berührte ihn.
»Ja, für den Rücken«, nickte er. »Das Leben in diesen Steinmauern ist beschwerlich.«
Jetzt erst begriff Mrs. Pollifax. »Ach, Sie haben Rheuma!«
Er nickte grämlich. »Aufstehen, bücken, tut
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