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kommt wie gerufen

kommt wie gerufen

Titel: kommt wie gerufen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dorothy Gilman
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nickte und sah noch einmal rasch nach Farrell. Über Nacht war seine Temperatur beängstigend hochgeschnellt, und sie war sehr besorgt. Wenn er am Leben bleiben sollte, dann mußte die Kugel aus seinem Arm entfernt werden. Wofür er überleben sollte, wußte sie zwar nicht, aber jeder natürliche Instinkt in ihr sträubte sich dagegen, einen Menschen einfach sterben zu lassen. Sein Gesicht war stark gerötet, er war schläfrig und hatte keinen Appetit.
    Sie schätzte, daß er an die neununddreißig bis vierzig Grad Fieber hatte und war nicht immer bei vollem Bewußtsein. Mrs. Pollifax beugte sich über ihn und sagte beruhigend: »Ich bin gleich wieder da.«
    Farrell blinzelte ihr zu und grinste schwach: »Viel Spaß.« Ehe sie ging, holte Mrs. Pollifax von ihrer Pritsche noch die handgewebte Jacke, die sie vor einer Ewigkeit getragen hatte, als sie ihr Hotelzimmer in Mexico-City verließ. Sie war jetzt sechs Nächte lang nicht mehr aus den Kleidern gekommen und hatte das Bedürfnis nach adrettem Aussehen überwunden. Trotzdem hütete sie die Jacke mit weiblicher Unlogik.
    Tagsüber breitete sie das gute Stück sorgfältig auf ihrem Kissen aus, und nachts lag es zusammengefaltet auf dem Tisch, auf dem sie sonst ihre Patiencen legte. Die Jacke war für sie beinahe zum Fetisch geworden. Als sie sie jetzt vom Kissen zog, griff ihre linke Hand nach dem Buch über Albanien. Sie schob es unter die Jacke und ging, ohne den Kreml, wie Farrell ihren Spitzel nannte, eines Blickes zu würdigen.
    »Hat Ihnen mein Buch gefallen, werden Sie es lesen?« fragte Lulasch, sobald sie auf dem Flur standen.
    Sie nickte lebhaft. Sie hatte bereits sehr viel gelesen und stand im Begriff, sich einige ungemein aufschlußreiche Kenntnisse anzueignen.
    Längst hatte sie ihr voreiliges Urteil widerrufen, daß ein 1919 geschriebenes Buch nicht aktuell sein konnte. Sie hatte übersehen, daß politische Parteien und Kriege gleich Wolken über ein Land ziehen mochten, ohne sein Terrain zu verändern. Mrs. Pollifax begann sich mächtig für die Landschaft Albaniens zu interessieren und begrüßte begeistert die wenigen Minuten außerhalb ihrer Zelle, um sich ein wenig umzusehen.
    Sie ging durch die Wachstube und bemerkte, daß der Schlüssel zur Lade mit der Munition nach wie vor im Schloß steckte.
    Lulasch ließ sie ins Freie. Die Sonne, die selbst ein normales Auge blendete, schmerzte Mrs. Pollifax’ an das ewige Dämmerlicht in der Zelle gewöhnten Augen. Sie schlug die Hände vors Gesicht.
    »Da«, sagte Lulasch und reichte ihr ernst seine dunkle Brille.
    »Wie rücksichtsvoll Sie doch sind«, sagte Mrs. Pollifax und fand, daß sie nach wenigen Sekunden mit dieser Brille das Sonnenlicht ausgezeichnet ertrug. Sie befanden sich unweit des Abgrunds, in den Farrell gesprungen war. Von hier bis zur Felswand war nichts als gelbes Gestein jeder Größenordnung zu sehen. Links von ihnen warf das größere Gebäude einen scharfen schwarzen Schatten auf den felsigen Boden. Rechts von Mrs. Pollifax erhob sich ein unfruchtbarer Hügel mit dürftigem Föhrenbestand. Aus dieser Richtung waren sie gekommen. Mrs. Pollifax wollte aber erkunden, was vor ihr lag.
    »Darf ich spazierengehen?« fragte sie Lulasch.
    Er nickte, setzte sich auf die Bank neben der Tür und erklärte: »Gehen Sie heute lieber nur dort, wo ich Sie sehen kann, verstehen Sie? Von da bis da.« Mit beiden Händen bezeichnete er die Abgrenzung.
    Mrs. Pollifax nickte und stolperte über das Geröll an den Rand des Abgrunds. Dort setzte sie zu einer Wanderung an, die, wie sie hoffte, den Eindruck ziellosen Schlenderns erweckte, in Wahrheit aber ein Erkundungsgang war. Besonders interessierte sie das Tal, und von dieser Höhe bot sich ein weiter Blick. In einiger Entfernung konnte sie ein gewundenes Flußbett ausmachen, das sich von Ost nach West durch die Ebene schlängelte. Zwischen ihr und dem Fluß lagen vier kleine Ortschaften, deren eng zusammengedrängte Häuser in der unbarmherzigen Sonne schmorten. Der Talboden sah beinahe wie ein Schachbrett aus, denn hier reihte sich ein Feld ans andere. Rechts von Mrs. Pollifax, oder westlich, falls ihre Überlegung stimmte, führte eine Straße ins Gebirge, und auf dieser Straße sah sie Menschen arbeiten, die wie winzige, schwarze Käfer wirkten.
    Mrs. Pollifax drehte sich um, denn sie wollte wissen, was hinter ihr und jenseits von Lulasch und dem Festungsbau lag, und sie mußte den Kopf weit in den Nacken legen, ehe ihre Augen den Himmel fanden.

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