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kommt wie gerufen

kommt wie gerufen

Titel: kommt wie gerufen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dorothy Gilman
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»Ja, es war ein sehr angenehmes und friedliches Leben.«
    Farrell wandte ihr den Kopf zu, um sie im Dämmerlicht zu betrachten. Taktvoll bemerkte er: »Ich denke, ich schlafe jetzt ein wenig, Herzogin.« Sorgfältig schob er seinen verwundeten Arm zurecht, überließ Mrs. Pollifax ihren Gedanken und tat, als sei er eingenickt.
    Es war Essenszeit, als der neue Gefangene eintraf. Major Vassovic stieß ihn vor dem Essenträger her und fluchte laut. Dann wurde eine dritte Pritsche gebracht und an die dritte Wand geschoben. Mrs. Pollifax war vollauf damit beschäftigt, Mr. Farrell mit dem Löffel zu füttern, und beachtete nicht, was vorging. Als sie aber dann widerwillig ihre Karten zusammenschob, um für ihr eigenes Tablett Platz zu machen, und selbst aß, musterte sie den Neuen mit unverhohlener Neugier. Er lag auf der Seite und hatte das Gesicht auf beide Hände gebettet, aber eigentlich sah sie bloß einen struppigen, weißen Walroßschnurrbart, der kühn in die Luft stach, und einen rosigen Kahlkopf mit einem weißen Haarkranz um die Ohren. Es war ein höchst eleganter, viktorianischer Schnurrbart, wie sie ihn seit ihrer Kindheit nicht mehr zu Gesicht bekommen hatte. Sie bemerkte, daß auch Farrell, der sich an der gegenüberliegenden Wand anlehnte, den Mann eingehend studierte. Plötzlich sagte er: »Ich heiße Farrell, und Sie, Sir?«
    Der Mann hatte wohl Farrells Stimme vernommen und bewegte den Kopf, aber seine Miene blieb verständnislos, und er antwortete nicht.
    »Sprechen Sie englisch?« fragte Farrell.
    »Inglese?« wiederholte der Mann, schüttelte den Kopf und sprudelte mehrere Worte in einer Sprache hervor, die keiner der beiden verstand.
    »Er kann nicht englisch, das trifft sich gut«, sagte Mrs. Pollifax.
    »Was haben wir übrigens jetzt eben gegessen?«
    Mürrisch antwortete Farrell: »Das weiß der Himmel.« Sein Blick ließ den Fremden noch immer nicht los. Plötzlich rief er mit dem Ausdruck größter Verwunderung: »Sehen Sie doch, die Kerze!«
    Mrs. Pollifax wandte sofort den Kopf und zog die Stirn kraus, weil es nichts weiter als das flackernde Flämmchen zu sehen gab, das nur die armselige Illusion einer Beleuchtung hervorrief. Dann bemerkte sie, daß der Neue den Kopf gehoben hatte, um auch zur Kerze sehen zu können. Wie sonderbar, dachte sie, er hat genau verstanden, was Farrell sagte. Man hatte den Neuen gerade in dem Augenblick in die Zelle gesteckt, als General Perdido verkündet hatte, daß er einige Tage verreisen werde. Nun grübelte sie über den möglichen Zusammenhang nach. Ja, das war durchaus denkbar. Der General schien noch ein weiteres englischsprechendes Mitglied der Sigurimi ausfindig gemacht zu haben. Sie lächelte Farrell zu, um ihm zu zeigen, daß sie seine Warnung verstanden hatte.
    Abends kam Lulasch, um das Speisegeschirr abzuholen, und nach einem flüchtigen Blick auf den neuen Gefangenen kam er zuerst zu Mrs. Pollifax. »Heute abend ist es später geworden. Wir haben General Perdido zu seinem Flugzeug fahren müssen.«
    Mrs. Pollifax bemerkte, daß er zwei Aspirin auf ihr Tischchen gelegt hatte, und sie blickte ihn dankbar an.
    »Auch für Sie, damit Sie auf Englisch über mein Land lesen können.« Er sprach leise, hatte dem neuen Gefangenen noch immer den Rücken zugekehrt und schob ein Buch unter ihr Kissen. »Das ist das Buch, von dem ich erzählt habe«, setzte er ehrfürchtig hinzu. »Ich trage es immer bei mir, und es steht sogar eine Widmung für mich drinnen.«
    Mrs. Pollifax mußte sich auf einen zweiten dankbaren Blick beschränken, denn sie wagte nicht zu sprechen. Lulasch ging zu Farrells Tisch, räumte ihn ab und entfernte sich. Da sie nun wieder Platz hatte, legte Mrs. Pollifax ihre Karten für ein neues Spiel zurecht und vertiefte sich für die nächste Stunde entschlossen in ihre Beschäftigung. Farrell versank als erster in unruhigen Schlaf. Bald darauf drehte sich der Fremde zur Wand und begann laut und rhythmisch zu schnarchen. Auch Mrs. Pollifax wurde schläfrig, schob ihre Karten zusammen und legte sich nieder.
    Lulaschs Buch unter dem Kissen drückte sie. Sie hatte es ganz vergessen. Da niemand wach war und ihr zusehen konnte, holte sie es hervor und schlug es auf. Es war eine Ausgabe aus dem Jahre 1919. Zuerst war Mrs. Pollifax gerührt, daß es für Lulasch noch immer solchen Wert besaß, aber dann fühlte sie sich enttäuscht, denn ein vor fünfundvierzig Jahren geschriebenes Buch konnte kaum sehr aufschlußreich sein. Zu viele Kriege hatten

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