Konfetti im Regen
Toten. Iris sah weg von der Frau, die vorn in der Kirche in der Zeichensprache redete, und betrachtete die fleckigen Glasfenster, die zur Straßenseite hin mit schützendem Maschendraht bedeckt waren. Kräftige Farben. Gelb, Grün, Rot, Blau. Das Sonnenlicht dahinter warf bunte Flecken auf den Steinboden. Jesus als Schäfer, der eine Schafherde führte. Jesus, der kniend zu einer Menschenmenge sprach. Das musikalische Spanisch des Priesters umgab sie. Alley ist tot. Sie blickte wieder nach vorn und sah, wie John Somers sie beobachtete. Sein Gesicht wirkte wie das eines Schuljungen und traurig. Sie war auch traurig. Das Leben ist kurz. Zu kurz.
Es war Zeit für sie, Alley die letzte Ehre zu erweisen. Iris hatte Angst. Sie glitt aus der Kirchenbank und stellte sich hinter Stan Raab und Joe Campbell. Drye schwebte irgendwie zwischen ihnen, wollte sich keinen Gesprächsfetzen entgehen lassen. Sie blickten zu Alley hinab.
»Er sieht friedlich aus«, sagte Raab.
»Ja«, sagte Drye, brach eine rote Nelke von einem der Blumengebinde ab und steckte sie sich ins Knopfloch.
Raab runzelte die Stirn.
»Ich möchte sie als Erinnerung behalten.«
»Ich vermute, man kennt einen Menschen nie richtig«, sagte Joe Campbell. »Da ist immer etwas Unergründliches.«
Iris stand still da, die Hände vor sich gefaltet. Somers stand ein paar Schritte entfernt, beobachtete.
»Sein Gesicht«, sagte Raab. »Sein Tod war kein Kampf. Er war leicht. Eigentlich eine Erlösung. Seht mal.«
»Sie haben gute Arbeit geleistet, nicht?« sagte Drye. »Sieht aus, als ob er schläft.«
»Die Schminke stimmt nicht«, sagte Iris. »Sie ist zu dunkel.«
»Überlaßt das Iris«, sagte Drye.
Iris fing an, den Ring aus Silber und Perlmutt an ihrem Finger zu drehen. Sie drehte immer fester, zog ihn dann brutal ab, griff in den Sarg und steckte ihn Alley an einen Finger.
»Sie berührt ihn!« sagte Drye in lautem Bühnenflüstern.
Joe nahm Drye am Ärmel, um ihn zum Schweigen zu bringen.
Iris legte ihre Hand auf Alleys schwarzes Haar und rieb einige Strähnen zwischen Daumen und Zeigefinger. Sie gab ihm einen letzten Klaps, drehte sich um und stieß fast mit John Somers zusammen, dessen Augen feucht zu sein schienen. Schnell ging Iris fort und blinzelte mit den Augen, um die Tränen zu unterdrücken, und fing dann an, bis zehn zu zählen, um sich wieder unter Kontrolle zu bekommen. Bei zehn waren die Tränen dahin zurückgedrängt, woher sie gekommen waren.
Iris fand Alleys Mutter. Sie war jünger, als Iris gedacht hatte, und man entdeckte bei ihr Alleys hohe Wangenknochen, das fein geschnittene Kinn, die geschwungenen Augenbrauen und die Karamelfarbe wieder. Iris fiel ihr Schulspanisch nicht mehr ein und versuchte es daher mit Zeichensprache. »Alley war mein Freund. Er war ein lieber und großzügiger und beliebter Mensch.«
Alleys Mutter legte den Arm um Iris’ Hals und zog sie zu sich heran, wobei sie eine Hand im schwarzen Handschuh auf ihre Wange legte.
Lewin ging hinüber zu Somers und flüsterte: »Wann redest du mit ihr?« Er nickte in Richtung Iris.
»Jetzt nicht. Sie ist zu traurig.«
»Seit wann kümmerst du dich um so was?«
»Was hast du zu meckern?«
»Es ist die beste Gelegenheit, Professor. Du weißt das.«
»Ich ruf’ sie am Montag an.«
»Und unser Tatverdächtiger wird bis dahin in Guatemala sein. Ich rede mit ihr. Heute. Ich krieg’ sie. Das wird ihre Einstellung verändern.«
»Ich kümmer mich drum.«
»Wann?«
»Draußen. Ich vereinbare eine Zeit.«
Iris ging zum hinteren Teil der Kirche, der Millionen von Meilen entfernt zu sein schien. Sie hörte hinter sich Dryes eifriges Geflüster mit Raab. Sie nahm keine Notiz von ihnen. Es bedeutete nichts. Carmen, die Kellnerin, drehte sich um, um Iris Vorbeigehen zu sehen.
Iris schloß die Tür des Triumph auf, als John Somers auf sie zukam.
Er hatte seine großen, quadratischen Hände geöffnet. »Iris?«
»Ja.«
»Iris...«
»Noch mal ja.«
»Ich möchte mich entschuldigen, weil ich so von der Rolle war.«
Sie seufzte und berührte die Schweißtropfen auf ihrer Stirn mit dem Handrücken.
Somers fuhr fort. »Ich bin nicht ehrlich zu dir gewesen. Aber keinen Scheiß mehr. Es ist, wie es ist. Ich muß diese Ermittlungen durchführen, und du bist Teil davon. Das ist nur die halbe Wahrheit. Ich möchte dich wieder kennenlernen, und ich weiß nicht, was das genau bedeutet. Das ist die andere Hälfte. Ich werde versuchen, die beiden Hälften auseinanderzuhalten.
Weitere Kostenlose Bücher