Konigs-Schiessen
ausdauernd.
»Wo is’ mein Mia?« wollte er wissen.
»Die ist schon gegangen, Onkel Hein.«
»Na, dann isset ja gut. Is’ ja auch Zeit«, brummte er und griff sein Glas.
»Paß auf, Vatter«, Ingeborg faßte Wilhelms Ellbogen, aber er schüttelte sie ab.
»Mein Lebtach hat mich noch kein Mensch nach Bett bringen brauchen.«
Er hinkte steif und mit geradem Rücken zum Kopf der langen Tafel.
»Wohin denn so eilig, Willi?« Der Pastor hatte dort seit Jahren seinen Stammplatz. Trotz seiner kleinen Unsicherheit beim,s’ und,l’ hatte er nichts von seiner Würde eingebüßt.
»Komm Willi, trink noch einen mit.«
»Nix da!« dröhnte Verhoeven. »Ich weiß, wann ich genuch hab’. Jetz’ is’ Sabbat. Ich geh’!« Und dann wankte er, den Blick stier auf die Tür gerichtet, zum Ende des Saales.
,,Nu’ wart’ doch, Vatter«, rief Ingeborg ihm nach. Sie hatte ihre liebe Mühe mit Onkel Hein, der sich nicht in sein Jackett helfen lassen wollte, allein aber den zweiten Ärmel nicht fand. »Wech, Kind, dat macht Hein immer selber. War’ doch gelacht!«
Er drückte schnell seine Zigarette aus und nickte seinem Nachbarn zur Linken kurz zu.
»Wat is, Mann? Musse schon nach Mutti hin? Ab inne Heia?« rief der ihm nach. Aber er war schon an der Garderobe, nahm seine Jacke, die er an den Haken ganz rechts außen gehängt hatte, und zog sie im Hinausgehen über.
Leichtfüßig, lautlos eilte er durch das dunkle Dorf. Nur vom Schützenhaus konnte man gedämpft Gelächter hören, sonst war alles totenstill. Der Nieselregen war dichter geworden und legte sich wie ein Film auf seine Haut. Im Schatten des Ehrenmals hastete er an der alten Schule vorbei. Als er um die Kirche herum auf den Friedhof lief, traf ihn der kalte Westwind hart ins Gesicht. Leise bewegte er sich am Rande der weißen Kieswege entlang, bis er seinen Platz erreicht hatte. Dann wartete er.
»So, Vatter, nu’ komm«, Ingeborg hatte Wilhelm endlich eingeholt.
»Ich geh’ noch ma’ ebkes pinkeln.«
Ingeborg seufzte laut. Der Onkel hing an ihrem Arm und plapperte munter vor sich hin. Sie hatte Kopfschmerzen.
»Beil dich, Vatter, wir warten draußen auf dich.«
Er sah sie kommen. Der Alte schwankte schwer. Der andere, ein paar Meter dahinter, am Arm der Frau, war genauso unsicher auf den Beinen. In einiger Entfernung kamen noch welche, er konnte ihr Lachen und Singen hören.
Jetzt öffnete die Frau das Törchen. Wenn sie unter der Laterne waren.. jetzt.
Das Geräusch des Schusses nahm er nicht wahr; er sah, wie der Mann vornüberfiel und liegenblieb.
Gebückt hastete er über den schwarzen Friedhof; hörte nicht das grelle Schreien der Frau, das Rufen der anderen, achtete nur genau darauf, daß er dem Kies auswich, kein Geräusch machte, nicht in den Lichtkreis der Laterne an der Ecke geriet.
Mit einem Satz nahm er die hohe Buchsbaumhecke, lief noch sechs, sieben große Schritte über unsicheres Gelände, spürte den Herzschlag am Hals und bog dann in die schwarze Finsternis des Feldwegs ein.
6
Die Kollegen von der Einsatzzentrale hatten Toppe den Weg nach Keeken genau beschrieben, aber durch den Regen entdeckte er das Hinweisschild erst im allerletzten Moment. Fluchend bremste er, setzte ein paar Meter zurück und bog nach links ins Dorf ab.
Er war noch nicht richtig wach. Irgendwie hatte er immer noch seinen Urlaubsrhythmus, war erst um eins im Bett gewesen, und das Telefon hatte ihn aus dem ersten Tiefschlaf gerissen.
Er solle einfach ins Dorf reinfahren, hatte ihm der Kollege gesagt, den Friedhof könne er gar nicht verfehlen. Die Straße schlängelte sich an einem großen, weißen Gebäude vorbei, das hell erleuchtet war. Toppe bremste und kurbelte das Fenster herunter.
Die Doppeltür war weit geöffnet, aber er konnte keine Menschenseele entdecken. Tony Marshall sang,Schöne Maid’.
Als er um die nächste Kurve bog, sah er schon den Notarztwagen und das Polizeiauto mit aufgeblendeten Scheinwerfern. Er fuhr an den linken Straßenrand und stellte den Wagen vor einem großen, hohen Steinklotz ab. Es war nicht eindeutig, ob das hier ein großer Platz oder nur eine Kreuzung war. Der Straßenverlauf war in der Dunkelheit ziemlich undeutlich.
Der Steinklotz entpuppte sich als Denkmal. Die Gemeinde Keeken ihren gefallenen Söhnen, las er. Hinter ihm bremste ein Wagen. Es war Astrid. Er hatte sie noch von zu Hause aus verständigt.
»Morgen«, brummte er. Der Regen lief ihm den Nacken herunter. Er schlug den Kragen seines neuen
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