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Kontaktversuche

Kontaktversuche

Titel: Kontaktversuche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erik Simon (Hrsg)
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bis zu diesem Moment spöttischen oder schläfrigen Augen brach etwas nicht mehr Menschliches hervor; wenn Blicke töten könnten, wäre ich längst tot. Eine Erregung außerhalb aller menschlichen Maßstäbe, mit denen ich umzugehen gewohnt war, veränderte sein Gesicht, vor mir saß ein anderer Mensch, der unerträglich litt und zugleich glücklich war. Er schien mich zu vergessen, war ganz seiner schrecklichen Hoffnung auf etwas hingegeben, in das ich nicht eindringen konnte. Ich existierte nicht länger für ihn, war mir nicht sicher, ob er sich überhaupt bewußt war, wo er sich befand – ein Wesen, das ganz Verlangen war, von allen Hemmungen und Konventionen befreit, die die Gefühle verdrängen, verbergen oder abtöten.
In diesen Augenblicken blieb ich gleichsam auch nicht derselbe. Ich verlor meine Fähigkeit zu analysieren und wartete nur noch auf ein Wort, eine Bewegung, um vor etwas besonders Wichtigem und Entscheidendem zu stehen. Dann sahen wir uns wieder fremd an, jeder für den anderen unzugänglich, und alles begann von vorn.
Ich hätte ihm erlauben können, Elena zu sehen, wagte aber nicht, ein Risiko einzugehen. Ihre erste Begegnung war mir noch im Gedächtnis, und ich wußte nicht, wie die zweite auf ihn wirken würde. Was würde er hinter dem entdecken, was ich in Elena zu sehen versuchte? Oder täuschte ich mich, war alles viel komplizierter und unverständlicher, und ich versuchte vergebens, es auf die gewöhnlichen Beziehungen eines Mannes zu einer Frau zurückzuführen? Was war Andrej für ein Mensch? Wo kam er her, und was war mit ihm geschehen? Was für eine Rolle spielte Elena in seinem Leben, und genügten allein seine Gefühle für sie; daß er sich auf eine Weise verwandelte, die sogar mich betroffen machte? So viele Dinge wußte ich nicht und würde sie wohl kaum jemals erfahren!
»Nein!« sagte Elena auf einmal. »Er hat nichts getan. Er ist nicht imstande, etwas Schlechtes zu tun – ich bin, eine Frau und fühle so etwas!«
Ihre Worte trafen mich unvorbereitet. Ich grinste dumm und zuckte die Schultern. Und gleichsam nicht ich, sondern ein anderer dachte: Sie kennt ihn seit zwei Monaten. Kann in zwei Monaten viel passieren? Sie hatte nur nicht mitgekriegt, daß er nicht wußte, was ein Ausweis ist. Aber hatte das für sie dieselbe Bedeutung, eine so große Bedeutung wie für mich? Dann riß ich mich zusammen und wurde mir der Unzulässigkeit meiner Gedanken bewußt.
»Ich glaube Ihnen, aber was kann ich machen?« Und ich war verpflichtet hinzuzufügen: »Er hat überhaupt keine Papiere!«
»Was wird dann mit ihm?«
Noch so eine Frage, die ich noch lange danach nicht gern hören würde.
»Ich weiß nicht!« sagte ich ehrlich. »Wir werden sehen.«
Ich fragte mich, ob ich mit den letzten Worten nicht eine unangebrachte Selbstgefälligkeit an den Tag legte. Wie um das Unbehagen vor mir selbst zu überspielen, dachte ich, daß ich sie trotz allem zu ihm bringen würde, wenn sie mich jetzt darum bat. Sie bat mich nicht darum.
Dann stand sie auf. Ich sah, wie sie auf die Tür zuging, und fragte mich nicht allzu sicher, was ich eigentlich gegen sie hatte. Oder hatte mich Stoitschkows Skepsis beeinflußt, und ich hatte mir auf die Schnelle den Unterschied in der Stärke ihrer Empfindungen ausgedacht? Hatte ich allen Ernstes erwartet, Elena werde mich darum bitten – als lebte sie auf dem Mond und wüßte nicht, wie unangebracht so eine Bitte klingen mußte –, oder brauchte ich einfach einen Vorwand, um nicht an manche Dinge zu denken, die nur im Traum möglich waren?
Ehe Elena hinausging, blieb sie an der Tür stehen und sah mich an. Ihre Augen waren gerötet und blickten bittend, aber ich war froh, daß sie ihre Bitte nicht in Worte umsetzte.
Toscho Lishew
Hallo, hörst du mich?
Sie beeilte sich.
    Noch nie hatte sie mit solcher Ungeduld das Ende des Unterrichts herbeigesehnt. Der Tag erschien ihr endlos lang. Das letzte Klingelzeichen klang in ihren Ohren wie eine Festfanfare. Gewöhnlich hatte sie abgewartet, bis der Lärm verstummt und die Kinder aus dem Klassenzimmer geströmt waren, heute aber ging sie als erste hinaus. Ihre Absätze klapperten hastig über das glänzende Mosaik des langen Korridors. Sie stopfte das Klassenbuch ins Fach, sagte »Auf Wiedersehen«, ohne darauf zu achten, wer von ihren Kollegen noch im Lehrerzimmer war, und eilte hinaus.
    Der Elektrobus schien wie eine Schnecke zu schleichen. Als er hielt, kam es ihr sogar vor, als bremse er übertrieben langsam. Mit

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