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Kontaktversuche

Kontaktversuche

Titel: Kontaktversuche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erik Simon (Hrsg)
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Bad, das andere aus der Küche.
Sie konzentrierte sich und verspürte Abneigung gegen das Essen und gegen das heiße Wasser. Das Glucksen hörte auf. Die Diele füllte sich mit einem anderen, kaum wahrnehmbaren, angenehmen Blütenaroma.
Jetzt, jetzt gleich…
Ein Läuten!
»Hallo, Maria, hörst du mich?«
Sie schwieg eine endlose Minute lang und sagte dann mit so ruhiger Stimme wie möglich: »Guten Abend.«
»Ich dachte schon, du wärst nicht zu Hause.«
»Ich habe dich erwartet… Ich habe erwartet, daß du anrufst«, berichtigte sie sich. »Ich habe sogar die Schule früher verlassen.«
»Wie alt bist du?«
»Sechsundzwanzig.«
»Ein Mädchen in deinem Alter sitzt, soviel ich weiß, abends nicht zu Hause.«
»Ich bin ein schrecklich verdrehtes Mädchen! Bis jetzt habe ich mich noch kein einziges Mal richtig verliebt… Sag mir jetzt deinen Namen.«
»Mein Name? – Was tut der zur Sache… Nimm an, ich wäre ohne Namen, ohne Alter und ohne Geschlecht, wenn du so willst… Ich schlage vor, daß wir uns in Zukunft keine Fragen mehr stellen, die uns selbst betreffen.«
»Du bist ja ein Spaßvogel… Übrigens fällt das fast in mein Ressort. Ich unterrichte nämlich Kinder, und denen muß man auch alles erklären. Was zum Beispiel der Name eines Menschen bedeutet. Wie schwer Jahre wiegen. Wie man ein Mann wird… Hör mal, stell dir vor, du wärst mein Schüler. So wie du einst als Kind Schule gespielt hast.«
»Ich habe nie gespielt.«
»Dann hast du keine Kindheit gehabt!«
»Das stimmt.«
»Das ist ja schrecklich!« rief sie aus. »Aber das ist doch wohl nicht wahr? Das war ein schlechter Scherz… Darf ich dir noch eine Frage stellen?«
»Fragen fordern die Wahrheit heraus, die Wahrheit aber ist nicht immer angenehm.«
Sie merkte ihm keinerlei Erregung an. Seine Stimme war gleichmäßig und farblos. Sie fühlte das plötzlich und wurde verwirrt.
»Na schön, dann nicht… Männer haben einfach eiserne Nerven. Sie können viel Freude auf einmal aushalten, aber auch den größten Schmerz hinunterschlucken…«
»Weißt du, was?« sagte er. »Man hat mir heute Omar Chajjâm vorgelesen, einen alten Dichter. Wunderbare Verse sind das. Hör mal zu…«
Sie lauschte der Stimme und stellte sich vor, wie er aussehen mochte. Jung, stark und schön. Eine hohe Stirn, üppiges Haar und ein kantiges, willensstarkes Kinn. Ein weicher Blick und lange, vornehme Hände. Sie halten ein in Jahrhunderten vergilbtes Buch, und seine strengen Lippen beben bei dem alten Text…
Unwillkürlich wandte sie sich um und blickte zu dem leeren Sessel hinüber.
»Hallo, Maria, hörst du mich? – Es wird Zeit, daß wir uns eine gute Nacht wünschen.«
»Gute Nacht.«
»Bis morgen.«
Mit dem Gedanken an ihn schlief sie ein, und mit demselben Gedanken wachte sie auf. Im Elektrobus dachte sie an ihn, auf der Straße und in der Schule – überall. Er füllte ihren ganzen Tag aus.
Sie beschloß, ihm keinerlei Fragen zu stellen. Es war besser so. Schließlich war auch er ein Mensch, der es eines Tages nicht länger aushalten und von selbst anfangen würde, Fragen zu stellen. Er würde ihr von selbst sein Herz öffnen…
Die Wahrheit ist nicht immer angenehm. Warum hatte er das gesagt?
Das glänzende Mosaik des Korridors, das Klassenbuch, der Elektrobus, die grünenden Ulmen und das Raunen des Regens, das abendliche Meer… Das Telefon läutete jeden Abend genau um zwanzig Uhr.
Das Ende des Schuljahres rückte näher. In der letzten Stunde des letzten Unterrichtstages schenkte ihr jedes Kind eine Nelke. Sie nahm die zwanzig Nelken in den Arm – zwanzig zarte Körper, zwanzig Paar traurige Augen und ein langes Warten auf den Herbst. Sie nahm sie in den Arm und trug sie nach Hause.
Sie beeilte sich nicht. An diesem Abend war alles normal. Das Trottoir beförderte seine abendlichen Passagiere mit gewöhnlicher Geschwindigkeit. Die gedämpften, melodischen Signale des Wetterdienstes erfüllten den frühen Maiabend und flößten durch ihren gewohnten, ständig gleichbleibenden Ton gleich Tausenden anderer alltäglicher Begleiterscheinungen dem Unterbewußtsein der Menschen das Gefühl eines gesicherten Daseins ein. Das Meer aber war so schön, wie es an einem Frühlingsabend nur sein kann.
Sie stand eine Weile in der Allee und stieg dann langsam die Treppe zur vierten Etage hinauf. Die Diele empfing sie mit ihrem warmen Licht. Die Decke quarrte wie ein altes Grammophon. Für Bruchteile von Sekunden stieß der Automat ein unglaubliches, kakophonisches

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