Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kontaktversuche

Kontaktversuche

Titel: Kontaktversuche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erik Simon (Hrsg)
Vom Netzwerk:
Gemisch aus Dutzenden verschiedener Melodien hervor. Dann verstummte er konfus und überschüttete sie mit Entschuldigungen: »Pardon… Pardon… Pardon…«
Die unsichtbare Scheibe drehte sich und wiederholte immer wieder das einzige Wort, das der Automat kannte. Das tat er nur, wenn es ihm nicht gelang, die Wünsche seines Herrn zu erraten, und er einen Fehler begangen hatte.
Sie brauchte nur einen Schalter zu betätigen, um den Automaten zu stoppen. Sie ging jedoch an ihm vorbei, ohne überhaupt an ihn zu denken. Sie betrat den Salon. Dort verstreute sie die Nelken um sich herum und setzte sich ans Telefon.
Der Raum füllte sich mit Blütenduft. Sie atmete ihn ein und spürte ihr Herz wie eine kleine, feierliche, voller Vorfreude bebende Glocke schlagen – ding-ding, ding-ding.
»Tausend Glocken«, sagte sie laut. »Ich möchte, daß tausend Glocken erklingen und alle Menschen es erfahren…«
Ein Läuten!
»Guten Abend, Maria.«
»Guten Abend… Ich bin ganz allein.«
»Was willst du damit sagen?«
»Die Schule ist beendet. Eine lange, lange Ferienzeit fängt an. Deshalb bin ich ganz allein. Nur du bist mir geblieben – körperlos, unsichtbar, fern und vielleicht sogar… nicht einmal vorhanden?«
»Ach, was für seltsame Menschen es doch gibt! Du kannst nicht trennen zwischen poetischer Phantasie und gewöhnlichem Aberglauben… Natürlich bin ich völlig real.«
»Auch materiell?«
»Ja, selbstverständlich. Obwohl das Materielle an sich keinerlei Bedeutung hat, denn es ist eine allgemeine Eigenschaft, die primäre Grundlage für alles.«
»Und lebendig?«
»Das hängt von der Formulierung ab…«
»Jetzt reicht’s aber! Ich bitte dich, es reicht! Vergiß doch einmal deine vollkommene Logik, die Finesse und den Glanz deiner Gedanken, den gesunden Menschenverstand und deine großartige Spracharchitektur! Ich möchte Fragen hören! Dumme und komische, lustige und traurige. Mag es sie geben – für dich und für mich… Ich will, daß du Dummheiten zu mir sagst. Liebe, unmöglich Dummheiten. Schöne Worte… liebe Worte… Worte, die mein Herz zum Klingen bringen und meine Zellen erblühen lassen wie Frühlingsmohn…«
Sie rang nach Atem.
»Genau das tue ich doch jeden Abend?« sagte er.
»Aber das sind nicht deine Worte. Weise Männer des Altertums haben sie geschrieben, Dichter unserer Zeit haben sie gereimt… Wir beide wiederholen sie doch nur. Wir suchen in ihnen nur eine eigene, anderen nicht sichtbare Schönheit…«
»Ich habe keine eigenen Worte… Im Grunde genommen gehören die Worte niemandem. Generationen von Menschen haben sie erschaffen und miteinander verknüpft. Ich weiß das sehr gut. Die Zeit hat den alten Sinn verdunkelt und ihnen einen neuen Inhalt, einen früher nicht gekannten Reiz gegeben, hat sie mit Nuancen und Zwischentönen, mit Farbe und Bewegung, mit Wärme und Kälte versehen… Weißt du, aus der Sicht der formalen Logik ist ein Dichter nichts Besonderes. Sein Verdienst besteht darin, daß er aus bereits Geschaffenem, aus unzähligen Verbindungen die treffendsten, schönsten und überzeugendsten auswählt… Er ist eine Art Filter…«
»Hör auf!« sagte sie leise. »Hör auf. Nimm Bleistift und Papier. Schreib dir meine Adresse auf. Komm sofort her. Zu mir. Hierher in mein Zimmer. Umarme mich. Küsse mich… Ich möchte deine Kraft kennenlernen… Nein, unterbrich mich nicht. Ich weiß… Ich weiß alles. Ich will es. Ich will, daß du mich streichelst, auch wenn du das nur mit einer Hand tun kannst. Ich weiß ja… Komm zu mir mit deiner ganzen physischen Unvollkommenheit. Ohne Finger oder ohne Hand oder… oder sogar, wenn du verkrüppelst bist.«
Sie war davon überzeugt. Sie hatte sich bereits an den Gedanken seines körperlichen Gebrechens gewöhnt. Sonst hätte er seinen Namen nicht verschwiegen, hatte nicht sein Gesicht und seinen Körper vor ihr versteckt… Ihr war bereits alles egal, sie erwartete ihn, sie war auf alles gefaßt.
»Physisch bin ich vollkommen«, sagte er. »Aber ich kann keinen einzigen deiner Wünsche erfüllen.«
»Du willst nicht?«
»Ich kann nicht.«
»Warum? Warum? Warum?«
»Weil ich ein Roboter bin.«
    Den Duft der Nelken gab es nicht mehr, im Nu erlosch das warme Leuchten der Wände, die Membran verstummte – ein totes Stück Metall, das nie lebendig gewesen war… Ding-ding, ding-ding – die Glocke in ihrer Brust dröhnte aus voller Kraft, stieg immer höher und verwandelte sich in einen großen, festen Klumpen, der sie nicht mehr atmen

Weitere Kostenlose Bücher