Kontaktversuche
einem Satz sprang sie auf das bewegliche Trottoir. Heute schien auch dieses sich kaum von der Stelle zu rühren und träge geworden zu sein. Sie lief lös, überquerte den Radfahrweg und ging zwischen den grünenden Ulmen und dem stürmisch sprießenden Gras die Allee entlang. Über dem Viertel brummten leise die Hubschrauber des Wetterdienstes und versprühten einen feinen Regen über dem Park. Einige Federwölkchen schwebten wie kostbare Spitzen über dem Meer, das an diesem Frühlingsabend glatt und still im feurigen Abglanz dies Sonnenuntergangs dalag.
Sonst hielt sie stets inne, um sich an diesem Bild zu erfreuen, heute aber dachte sie, daß es etwas noch Schöneres als den künstlichen Regen und die flammende Unendlichkeit der Wasserfläche gäbe. Ihr Herz schlug rasch, voller Vorfreude und Ungeduld.
Der Vakuumlift beförderte sie in die vierte Etage. Die Wohnungstür erkannte die Berührung ihrer zarten Finger und öffnete sich lautlos. In der Diele umfing sie weiches, grünes Licht. Von der Decke rieselten bekannte, angenehme Töne. Flüchtig dachte sie, wie seltsam es sei, daß sie diese Melodie noch immer liebte – der Automat erriet den Wunsch seines Herrn, ohne sich je zu irren.
Sie lief durch alle Zimmer, durch die Küche und das Bad. Hinter ihr leuchteten die Wände in warmen Farbtönen auf. Der Kochautomat begann leise zu surren. Die Badewanne füllte sich lautlos mit Wasser. Aus dem Salon kam eine melodische Frauenstimme, die jedoch mitten im zweiten Vers abbrach – der häusliche Vorleser spürte, daß sie keine Gedichte hören mochte, und unterbrach durch ein Relais entschieden den elektronischen Strom des Textes.
Worte. Töne. Gehorsame Automaten, die man nicht einmal zu berühren brauchte. Sie errieten von selbst die Wünsche des Menschen und erfüllten sie eifrig und prompt. Unpersönliche, vollkommene Automaten, ohne die das Leben wahrscheinlich leer und trist gewesen wäre…
Hatte sie bisher denn gelebt?
Mit sechsundzwanzig Jahren war sie allein in diesem Haus und allein auf der Welt. Es bedurfte erst eines fehlgeleiteten Telefonanrufs, damit ihr das zum Bewußtsein kam. Es mußte erst einer jener seltenen, einfach unwahrscheinlichen Irrtümer in dem so vollkommen geregelten Leben der Menschen passieren. Erst da begriff sie, wie das Gefühl zu einem Mann alle Worte und Töne, alle Bewegungen und Gedanken ausfüllen kann. Wie es das Meer und das Gras, die immer wiederkehrenden Tagesanbrüche, die Schule und die Kinder – mit den großen, schelmischen Augen voller Neugierde und Fragen, voller Zärtlichkeit und Vertrauen – zu einem harmonischen Ganzen vereint.
Sie blickte auf die Uhr – bis zwanzig Uhr fehlten nur wenige Minuten. Zu dieser Zeit hatte es sich gestern abend gemeldet. Eine plötzliche Frage, eine verspätete Entschuldigung, die sie nicht annehmen wollte. Sie unterhielten sich lange. Sie unterhielten sich und lachten, scherzten und witzelten, empörten sich und begeisterten sich. Zwei Stimmen – ein voller Tenor und eine klingende Frauenstimme –, zwei rauschende Bäche, die aus zwei Richtungen aufeinander zuströmten, selbstvergessen in ihrer überraschenden, auf regenden Berührung…
»Wie heißt du?« fragte er plötzlich.
»Maria.«
»Gute Nacht, Maria. Morgen rufe ich dich zur selben Zeit an,«
Sie ließ die Hände sinken. Der Hörer drehte sich in ihrer warmen Hand. An ihren Ohren drang das beunruhigende, verzweifelte und hartnäckige Rauschen der Membran. Sie hob die Hand und vernahm eine bekannte Stimme: »Hallo… hallo… hörst du mich? – Maria, hörst du mich? – Ich habe die Nummer vergessen… Wie ist deine Telefonnummer?«
Sie diktierte deutlich die Ziffern und ließ ihn sie einzeln wiederholen.
Wenn sie nun sofort aufgelegt hätte! Sie biß sich auf die Lippen. Sie stellte sich vor, wie die Kette in der Zentrale abgerissen wäre, dort, wo sich die zwei Scheiben einander zufällig genähert hatten – etwas, was mit ihnen kein zweites Mal in Jahrhunderten, in Millionen oder Milliarden Jahren passieren würde…
Aus der Küche duftete es nach Gebratenem und nach Zimt. Im Badezimmer gluckste das erhitzte Wasser – die Wanne erwartete sie. Alles war bereit, aber jeden Augenblick würde… Sie blickte von neuem auf ihre Uhr und schrak zusammen. Eine Minute vor acht.
Zweifel erfaßten sie. Hatte sie gestern abend wirklich mit einem Mann gesprochen? War das nicht nur ein Traum gewesen?
Leise und einladend riefen sie zwei Klingelzeichen – das eine aus dem
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