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Kontrollpunkt

Kontrollpunkt

Titel: Kontrollpunkt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Albahari
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saßen im Kreis und löffelten Maisbrei. Der junge Offizier erblickte als Erster den Kommandanten, sprang auf, holte tief Luft, aber der Kommandant ließ ihn nicht zu Wort kommen, er kommandierte: Rührt euch! und sagte, sie sollten weitermachen mit dem, was sie bisher taten. Wir essen Maisbrei mit Käse, sagten einige Soldaten, und der Kommandant beschloss, sich zu ihnen zu setzen. Den Soldaten tue es gut, wusste der Kommandant, möglichst oft zu erleben, dass die ranghöchsten und hochdekorierten Offiziere das Gleiche tun oder das Gleiche essen wie sie. Sie fänden dabei die Bestätigung, dass die Offiziere trotz der Militärhierarchie genauso Menschen seien wie sie. Vor allem Menschen, liebte der Kommandant zu betonen. Diesmal jedoch betonte er nichts, weil er selbst gern Maisbrei aß, am liebsten mit Milch, aber wenn es keine Milch gab, tat es auch Käse. Er blickte um sich, und erst jetzt fiel ihm das Ausmaß der Zerstörung durch den gestrigen Granatenbeschuss auf. War das denn gestern gewesen? Das kann gestern, aber genauso gut vor zehn Tagen gewesen sein, dachte der Kommandant. Alle Tage glichen sich, sosehr die Todesfälle sich auch unterschieden. Wenn man allerdings genau überlegt, sind alle Tode gleich, denn jeden ereilt der Tod. So wie ein Dichter schrieb: »Der Tod wird kommen, und er wird deine Augen haben.« Meine Augen nicht, dachte der Kommandant, ich kratze sie mir lieber aus, als dass ich dem Tod erlaube, sie in seinem Gesicht zu tragen. In einem Gesicht, das ohnehin leer ist, denn der Tod ist ein Gerippe, das herumläuft und sich statt auf eine Krücke auf die Sense stützt. Der Tod hinkt nämlich, und da er sehr eitel ist, stützt er sich auf die Sense, wenn er zu denen kommt, die laut seiner Liste dran sind. Er trägt die Sense also nicht, um jemanden damit niederzumähen – denn der Tod tötet nicht, er kommt vielmehr, um diejenigen abzuholen, die schon tot sind –, die Sense dient ihm dazu, einen Lichtreflex auf die Augen der auf ihn Wartenden zu lenken, damit sie so geblendet nicht merken, dass er hinkt. Der Kommandant war mit dem Essen fertig und stieß auf. In einer anderen Situation hätte er noch eine Portion genommen, aber jetzt war dafür keine Zeit. Außerdem wollte er in Erfahrung bringen, warum hier nichts funktionierte. Wo waren zum Beispiel die Wachposten, befanden sich die Beobachter auf ihren Plätzen, hatte der Funker versucht, eine Verbindung herzustellen, wie stand es um die Verwundeten und – das war vielleicht am wichtigsten – warum hatte man ihn so lange schlafen lassen? Der Kommandant stand langsam auf, räusperte sich und wartete, bis die Soldaten still wurden. Dann wiederholte er alle diese Fragen und fügte am Ende als Zusammenfassung hinzu: Wer ist an dem heutigen Chaos schuld? Der junge Offizier hob die Hand und sagte ohne Umschweife, er habe diese Entscheidung getroffen, denn allen sei klar geworden, dass dies ein sinnloser Kampf sei, der nur einen Sinn bekomme, wenn man ihn als eine wahnwitzige Schlacht betrachte, in der sie von vornherein dem Tod geweiht seien. Es ist offensichtlich, fügte der junge Offizier hinzu, dass wir nur mit einem einzigen Ziel hierher geschickt wurden: den Feind aufzuhalten so lange wir können, das heißt, solange es noch lebende Soldaten gibt. Deshalb habe ich beschlossen, die Soldaten von ihren Pflichten zu entbinden und alles vorzubereiten, damit wir uns möglichst bald dem Feind ergeben. Der Kommandant, der bis dahin mit leicht zur Seite geneigtem Kopf zugehört hatte, brüllte plötzlich, das sei Verrat, der mit dem Tod gesühnt werde, und griff zu seiner Pistole. Aber bevor er dazu kam, das Futteral aufzuknöpfen, klickte es von allen Seiten, und er fand sich von den Läufen verschiedenster Waffen einschließlich eines Minenwerfers umzingelt. Na gut, sagte der Kommandant, ich habe verstanden. Aber hatte er denn vorhin nicht dasselbe gedacht, hatte er sich denn nicht selbst gesagt, er würde es den Soldaten nicht verübeln, wenn sie desertierten? In dem Augenblick ging eine Schießerei los, und alle beeilten sich, einen Unterschlupf zu finden. Es dauerte einige Minuten, bis sie verstanden, dass die Geschosse nicht ihnen galten, dass sich in dieses Spiel andere eingeschaltet hatten, Abtrünnige oder Rebellen oder Bürger eines Drittlandes, der Kommandant und die übrig gebliebenen Soldaten wussten jedenfalls nicht, ob es Freunde oder Feinde waren. Der Kommandant rief dem Funker zu, er solle versuchen, die Frequenzen der

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