Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kontrollpunkt

Kontrollpunkt

Titel: Kontrollpunkt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Albahari
Vom Netzwerk:
Feinde zu finden und festzustellen, wer sie seien. Etwas später lag er neben ihm und vernahm Stimmen, die wie Chinesisch klangen, obwohl es auch jede andere fernöstliche Sprache sein konnte. Der Funker drehte am Knopf, man konnte weitere, ebenfalls aufgeregte Stimmen hören, aber diesmal gab es für den Kommandanten keinen Zweifel. Das war Tschechisch. Der Kommandant dachte wehmütig an viele Reisen in die damalige Tschechoslowakei, wo, wenn man Devisen hatte – und der Kommandant hatte immer die Taschen voller Deutscher Mark und amerikanischer Dollar –, das Leben billig war, schöne Frauen wohlfeil, vom Bier ganz zu schweigen. Mit einem Wort, ein Paradies. Ja, ja, mein Lieber, sagte der Kommandant zu sich selbst, das war ein Leben und nicht dieses Elend hier, das einem nur den Tod zu bieten hat, als sei der Tod etwas, das man für ein paar Stunden ausprobieren und, wenn es einem nicht zusagt, zurückgeben kann. Aber nichts von alldem beantwortete die Frage, auf wessen Seite die Tschechen standen, die identisch war mit einer anderen, die der Kommandant ebenfalls hätte stellen können, nämlich auf wessen Seite wir standen. Wer ist überhaupt wer in diesem Chaos?, fragte sich der Kommandant, aber da kullerte eine offensichtlich gezündete Handgranate auf ihn zu. Das war es also, ging es dem Kommandanten durch den Kopf, es ist aus, und er beschloss schon, sie explodieren zu lassen, als er den verstörten Blick eines Kindersoldaten bemerkte, der neben ihm lag und den Mund immer weiter aufsperrte. Der Kommandant nahm die Granate und schleuderte sie so weit wie nur möglich, ins Gebüsch, in das Dickicht, auf den Pfad, der in den Wald führte. Da ertönten Schreie aus dieser Richtung, un d unmittelbar darauf sprang aus dem Dickicht eine Gruppe Soldaten mit erhobenen Händen. Die so plötzlich begonnene Schießerei hörte genauso plötzlich auf, und die Soldaten bewegten sich langsam, tänzelnd auf die Schranke des Kontrollpunkts zu, die in dem ganzen Durcheinander unbeschädigt geblieben war. Der Kommandant stand auf und ging zum Schlagbaum. Er wusste, dass er den feindlichen Scharfschützen schutzlos ausgesetzt war, spürte sogar ein leichtes Jucken an den Stellen, auf die sie zielten, an der Stirn und auf der Brust, aber ein echter Soldat, und er hielt sich für einen solchen, hat nur eins im Sinn: die Erfüllung seines Auftrags, und man darf nie, merkt euch das, sagte er zu den Kindern am Kontrollpunkt, nie und niemals zeigen, dass man Angst hat. Ich habe keine Angst vor dem Tod, sagte jener Kindersoldat, aber vor einem sich endlos dahinziehenden, langsamen Sterben. Oder einem langweiligen, warf einer der Soldaten ein, es gibt nichts Schlimmeres als ein langweiliges Sterben. Der Kommandant spürte, wie jemand an seiner Hose zupfte, und sah den Kindersoldaten, der sich an ihn herangerobbt hatte. Ich kann nicht aufstehen, flüsterte er, ich glaube, ich habe in die Hose geschissen, aber ich möchte Sie bitten, dass Sie, falls ich schwer verwundet werde und Schmerzen habe, sofort mein Leiden beenden. Rede keinen Unsinn, sagte der Kommandant, hockte sich neben ihn, schob die Hand in dessen Hose, drehte ihn auf die Seite und betastete seine Hoden. Als er die Hand wieder herauszog, war sie mit Blut und Kot beschmiert. Damit begrüßte er auch die Soldaten, die einige Sekunden später mit immer noch erhobenen Händen die Schranke erreichten. Der Kommandant trat zu einem von ihnen, der irgendein Abzeichen auf dem Ärmel trug, und fragte ihn, während er mit der blutigen und stinkenden Hand vor dessen Nase wedelte, woher sie kämen. Woher, wiederholte der Soldat achselzuckend. Er hielt sich mit zwei Fingern die Nase zu und atmete durch den Mund. Ihr seid nicht die Unsrigen, sagte der Kommandant, das ist mir schon klar. Ihr seid nicht die Unsrigen, wiederholte der Soldat, das ist mir schon klar. Der Kommandant drehte sich zu seinen Soldaten und fragte sie, ob diese Clowns ihn auf den Arm nähmen und was er mit ihnen tun solle. Er bekam so viele Anregungen, dass er den ganzen Tag damit hätte verbringen können, die beste davon auszuwählen. Inzwischen entschieden sich die Soldaten für einen Vorschlag, den jemand laut kichernd geäußert hatte: Man sollte sie alle erschlagen, worauf die Mehrzahl raunend skandierte: Erschlagen! Erschlagen! Da erst wischte der Kommandant seine Hand am Gras und an jemandes Hemd ab, das über dem Schlagbaum hing, und fragte die fremden Soldaten, ob sie Pässe bei sich hätten. Sie zuckten mit

Weitere Kostenlose Bücher