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Kontrollpunkt

Kontrollpunkt

Titel: Kontrollpunkt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Albahari
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Offizier erklärte, er sei bereit, alle dessen Verpflichtungen zu übernehmen. Dabei machte er ein so trauriges Gesicht, dass der Kommandant den Eindruck hatte, der junge Offizier meine, er müsse den Tod des Vaters mittragen. Es gibt kein doppeltes Sterben, jedermanns Vater stirbt nur einmal, sagte der Kommandant entschlossen und schickte den Funker, sich umzuziehen. Er blickte in die Höhe: Der Himmel war rein und unendlich blau, nur hier und da sah man dünne Wolkenschleier. An diesen Stellen war das Blau etwas blasser, aber nicht weniger schön. Was ist nur mit mir los, dachte der Kommandant, jemand wird noch auf den Gedanken kommen, ich sei verliebt. Er war in der Tat immer schnell dabei, sich zu verlieben, deswegen las er Gedichte, und zwar nicht nur ab und zu, sondern regelmäßig, so wie leidenschaftliche Leser Romane verschlingen. Seinen Bibliothekar zu Hause freute das, und er äußerte g elegentlich, nur dank dem Kommandanten gebe es in der Bibliothek noch Regale mit Gedichtbänden. Niemand, sagte der Bibliothekar, niemand liest mehr Poesie! Jemand fragte, ob auch neue Poesie geschrieben werde. Der Bibliothekar wollte gerade antworten und einige Angaben aus einem analytischen Artikel zitieren, der für die unlängst abgehaltene Jahresversammlung des Bibliothekarenvereins verfasst worden war, wurde aber von einem ungeduldigen Leser unterbrochen, der wissen wollte, wie viele Personen sich überhaupt Gedichtbände ausliehen. Ähm, der Kommandant und … und …, stammelte der Bibliothekar, … und einmal hat sich ein Mädchen Lorcas Gedichte ausgeliehen, aber sie noch immer nicht zurückgebracht. Der Kommandant wies die Leute an, die Schutzräume aufzusuchen, denn die Nachmittagsschießerei konnte jeden Augenblick wieder losgehen. Der Feind hörte nämlich mit dem Beschuss ungefähr um 11.00 Uhr auf, und diese nicht vereinbarte Feuerpause dauerte bis 16.30 Uhr. Wozu bei der größten Hitze kämpfen, fragte der Kommandant der gegnerischen Armee, als sie einmal über Funk miteinander sprachen, uns bleibt doch immer noch genügend Zeit dafür, wenn die Sonne nicht mehr so stark brennt. Ein feiner Mensch ist das, sagte der Kommandant damals zum Funker, und das brachte ihn jetzt darauf, sich zu fragen, wo dieser geblieben war, da er ihn schon vor einer ganzen Weile geschickt hatte, sich Zivilkleider anzuziehen. Jetzt sollte er aufbrechen, dachte der Kommandant, denn wenigstens einer der Feinde würde nicht versuchen, ihn zu töten. Bei dem anderen oder bei den anderen – denn niemand wusste, wie viele es waren – war er nicht sicher. Wenn es zum Zerfall des vereinten Europa und in einigen Staaten zu Auseinandersetzungen und folglich zu Aufspaltungen in proeuropäische und antieuropäische Kräfte gekommen war, dann durfte man annehmen, dass es Dutzende von möglichen und tatsächlichen Gegnern gab. Ihm war nicht klar, wie der Funker es sich überhaupt vorstellte, nach Hause zu gelangen, aber er verstand sehr wohl dessen Gefühle der Verzweiflung, des Selbstmitleids und der Selbstanklage, denn er selbst war weit weg gewesen, als sein Vater starb, weswegen er sich noch bis vor Kurzem Vorwürfe gemacht hatte. Als ob sein Vater am Leben geblieben wäre, hätte ich ihm beigestanden, dachte der Kommandant jetzt. Er fand den Funker, der in Zivilkleidung neben seinen Sachen kniete, und dachte, jener bete, dabei schlief er. Der Kommandant berührte ihn an der Schulter und sagte, die Lippen nahe an dessen Ohr: Es ist Zeit! Der Funker sprang auf, schlug dabei mit dem Hinterkopf gegen das Kinn des Kommandanten, und beide stießen Flüche aus. Los, sagte der Kommandant, die fangen bald an. Der Funker rannte den Weg bergab. Am Rande des Waldes hielt er kurz an, richtete sich auf, streckte die Brust raus und stürmte hinein. Kurz darauf hörte man drei Schüsse, und obwohl die Chancen fifty-fifty standen, war sich der Kommandant fast sicher, dass der Funker seinen Weg weiterging. Man konnte gleich sehen, dachte der Kommandant, dass er zu den Menschen gehört, die von den Kugeln verschont werden. Es gibt nicht viele solcher Glückspilze, obwohl sie dafür auf der anderen Seite Nachteile haben, wie das so mit Glück und Unglück eben ist. Das Leben ist nicht voreingenommen, es begünstigt keinen, und falls es einem etwas bietet, was nicht allen gleichermaßen zugänglich ist, teilt es einem bestimmt auch etwas Schlechtes zu, das heißt, macht einen in einem anderen Bereich zum Verlierer. So ist der Funker zum Beispiel den

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