Kontrollpunkt
führte seinen Zug besser als die anderen Zugführer. Als der andere Zugführer, verbesserte sich der Kommandant, denn der dritte weilte schon seit Langem nicht mehr unter den Lebenden. So lange ist das auch wieder nicht her, dachte der Kommandant, und ihm war sofort klar, dass er schon nicht mehr wusste, wie lange sie bereits am Kontrollpunkt stationiert waren, einige Wochen oder einige Monate, vielleicht könnten es, dachte er, sogar einige Jahre sein, und hätte er sich allein im Raum befunden, wäre er bestimmt in Tränen ausgebrochen. Kommandanten weinen nicht, dachte er, und es wurde ihm einen Augenblick leichter, wenn auch nicht besser. Man könne nicht alles haben, tröstete er sich und überlegte, er würde, vor die Wahl zwischen »etwas« und »nichts« gestellt, sich immer für »etwas« entscheiden. Inzwischen trat der Zugführer von einem Bein auf das andere und schwankte dabei wie eine Sonnenblume, was dem Kommandanten ein Lächeln entlockte, denn er liebte es, im Kino Sonnenblumenkerne zu knacken, wo er unter seinem Sitz immer ein Häufchen schwarzer Schalen hinterließ. Er mochte zwar auch Kürbiskerne, aber die wahre Kunst des Knackens zeigte sich bei den Sonnenblumenkernen, darin konnte sich keiner mit ihm messen. Oft war er zu einem Wettkampf herausgefordert worden, aber jedes Mal war es ihm gelungen, mehr Kerne aus der Schale zu lösen und zu verdrücken als jeder seiner Rivalen. Er konnte es kaum erwarten, dass der Krieg zu Ende gehen und er von dem schmierigen Verkäufer vor dem Kino Sonnenblumenkerne kaufen würde. Inzwischen schwankte der Zugführer nicht mehr, er neigte den Kopf, als versuche er, die Gedanken des Kommandanten zu erlauschen. In unserem Falle, sagte der Kommandant, haben wir keine große Wahl. Wir können ruhmreich sterben oder uns unrühmlich ergeben, uns dem Feind auf Gedeih und Verderb ausliefern. Wir können uns natürlich auch gegenseitig umbringen wie in Masada. In allen drei Fällen werden wir als Ausnahmen in die Geschichte eingehen, als Todgeweihte, die ihr Leben dem Wohl des Vaterlandes geopfert haben. Der Zugführer räusperte sich diskret und sagte: Sie haben aber nicht die Möglichkeit unseres Sieges in Betracht gezogen. Der Kommandant musterte ihn von oben bis unten und fragte: Sie vielleicht? Der Zugführer schwieg. Manche Fragen darf man nie stellen, das sollte jeder lernen, egal ob er schnell oder langsam von Begriff ist. Ich würde jetzt am liebsten nach Hause gehen, dachte der Kommandant, aber im nächsten Augenblick ohrfeigte er sich im Geiste wegen seines Defätismus. Er bedankte sich bei den Zugführern, und als er gerade die Tür hinter ihnen schließen wollte, vernahm er das Pfeifen einer Granate. Sie flog hoch über ihren Köpfen, als erkunde sie zunächst den Raum unter sich. Die nächste, das wusste der Kommandant, würde wesentlich tiefer fliegen und etwas präziser sein, aber schon die dritte würde genau zwischen ihnen einschlagen. So kam es auch, denn sie fanden nirgendwo Schutz. Sie liefen wie kopflose Fliegen umher, die summen und mit ihren Beinchen strampeln, richteten aber nichts aus. Die Granaten fielen zwischen sie wie überreife Aprikosen auf die unter ihren Obstbäumen eingenickten Schrebergärtner, aber im Unterschied zu jenen, die die aufgeplatzten Aprikosen sammeln und sie in ein Maischefass werfen, wurden die aufgeplatzten Soldaten von den Granaten hoch in die Luft gewirbelt, von wo sie unter hörbarem Stöhnen auf die Erde zurückplumpsten. Der Kommandant wollte einige Befehle erteilen, gab es aber schnell auf und begann vor Wut zu fluchen. Er sprang sogar auf einen Tisch beziehungsweise auf eine Bank, die neben der Schranke stand, als wolle er den Feind herausfordern, als wünsche er eine Granate nur für sich allein, aber die Granaten blieben genauso plötzlich aus, wie sie gekommen waren. Der Kommandant blieb versteinert auf dem Tisch stehen, in seinem Mund steckte noch ein halber Fluch. Es hat aufgehört, sagte jemand völlig überflüssigerweise, wie immer in solchen Situationen. Auf einmal hörte man die Schmerzensschreie der Verletzten, dann rief jemand: Feuer!, und alle sahen kleine Flammen auf dem Dach der Mannschaftsbaracke lodern und zusehends größer werden. Einige Soldaten schleppten Eimer voll Regenwasser herbei und stürzten sich in den Kampf gegen das Feuer, während der Kommandant die schlimmste Aufgabe in Angriff nahm, die der Identifizierung der Toten. Fünf Soldaten lagen im Gras, drei von ihnen waren tot, zwei
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