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Kontrollpunkt

Kontrollpunkt

Titel: Kontrollpunkt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Albahari
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in einem grotesken Ballett. Vielen zitterten die Beinmuskeln, und es schien ihnen, das Licht der Rakete würde nie erlöschen. Aber keine Rakete währt ewig, das sind nur kurzlebige Güter wie wir alle, dachte der Kommandant, wie wir alle. Die Soldaten hatten gerade noch Zeit, sich zu recken, als sie eine neue Rakete zwang, an die nächsten Büsche gedrückt wieder still zu stehen. Hinlegen, zischte der Kommandant dem Schatten vor ihm zu, und die Soldaten stürzten zu Boden, als hätten sie nur auf diesen Befehl gewartet. Die Raketen erhellten noch einige Male den Himmel und die Lichtung, dann blieben sie aus. Die Dunkelheit war noch eine Weile fahl, dann verdichtete sie sich wieder um sie herum wie ein Vorhang. Der Kommandant stand langsam auf und begab sich mit eingezogenem Kopf an die Kolonnenspitze. In diesem Augenblick – man hörte es deutlich – meldete sich jemandes Handy, und die Anfangstakte des einst populären Liedes »Marina« ertönten wie eine Explosion. Woher jetzt das Telefon, wenn sie seit Tagen keinen Strom hatten? Hallo!, sagte eine Stimme im Dunkeln, danach hörte man das Ausschalten des Handys. Jemand hat sich verwählt, sagte dieselbe Stimme, als rechtfertige sie sich. Mach das Scheißding aus, befahl der Kommandant. Er bemühte sich, scharf und streng zu klingen, aber das gelang ihm nicht, weil er daran dachte, wie er vor langer Zeit mit einem blonden Mädchen am Meeresufer Händchen hielt, während aus einem Hotel genau dieses Lied erklang. Er konnte sich sogar an den Text erinnern: Bei Tag und Nacht denk ich an dich, Marina, du kleine zauberhafte Ballerina … Da stellte er sich zum ersten Mal die Frage nach dem Sinn eines Krieges, bei dem man weder weiß, wer der Gegner ist, noch warum man gegen ihn kämpft, noch ob der Friede schon unterzeichnet ist, noch wer wen beneidet: die Toten die Lebenden oder die Lebenden die Toten. Später, im Wald, auf dem Bergkamm, sollte der Kommandant sich Vorwürfe machen wegen solcher defätistischen Gedanken, aber im Moment brachten sie ihm Trost. Der Krieg ist doch eine große Schweinerei, darin sind wir uns alle einig, da gibt es nichts lange zu überlegen. Jeder Krieg ist eine Schweinerei, der gerechte und der ungerechte, der Eroberungskrieg und der Verteidigungskrieg, der auf dem Lande und der auf See und der in der Luft und der unter der Erde, die sind alle gleich, da gibt es keinen Unterschied. Der Krieg ist einfach scheiße und basta. Später, auf dem Bergkamm, wird der Kommandant sich dieser Worte schämen, aber das wird nichts an der Sache ändern. Von Worten hat man keinen großen Nutzen, das hatte der Kommandant schon vor langer Zeit in einer Erzählung eines serbischen Schriftstellers gelesen. Diese Erzählung ging ihm lange nach, vor allem wegen einer Szene, in der sich die Mutter mit einer Nadel in den Finger sticht, der Tochter etwas erklärt und am Ende sogar den Blutstropfen vom Finger leckt. Der Kommandant schüttelte sich vor Unbehagen: Hier wurde er zwar tagtäglich mit verschiedenen Arten des Sterbens konfrontiert, aber der Nadelstich in die Fingerkuppe ließ all diese Tode sinnlos und unbedeutend erscheinen. Inzwischen waren die Soldaten an ein altes, schiefes Gatter gelangt, das wahrscheinlich einmal ein richtiger Bretterzaun gewesen war. Der Kommandant gab ihnen flüsternd den Befehl, nicht an den Zaun zu treten, er befahl sogar, einige Schritte Abstand zu halten. Dann beriet er sich kurz mit Mladen und einem Zugführer. Alle waren derselben Meinung: Der Zaun war das letzte Hindernis, und es wäre logisch, dass der Feind sich darauf konzentrieren würde. Aber sosehr sie sich auch bemühten, fanden der Kommandant und seine Berater keine Lösung. Bald bricht der Tag an, dachte der Kommandant und manövrierte sich damit in eine Sackgasse. Kurz darauf schlug er sich mit der Hand an den Kopf und erklärte, jetzt sei ihm alles klar. Er sprach leise in die Dunkelheit hinein, es schien, er würde nie ein Ende finden. Aber dann schilderte er in kurzen Zügen, wie er mit einem Mal erkannt habe, dass der Feind sie in eine Falle locken wolle. Der Feind sei nämlich davon ausgegangen, sie würden vermuten, der Zaun sei vermint, ihn deshalb an beiden Enden umgehen und dann vereint weitermarschieren. Mit anderen Worten, sagte der Kommandant, er habe begriffen, dass der Zaun gar nicht vermint sei, dass sich die Tretminen vielmehr an den beiden Enden des Zauns befänden, wohingegen der mittlere Teil am sichersten sei. Kaum hatte er das

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