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Kontrollpunkt

Kontrollpunkt

Titel: Kontrollpunkt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Albahari
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anzulächeln. Sie warf die Decke ab, richtete sich auf und breitete die Arme aus. Hinlegen, rief der Kommandant, hinlegen! Aber es war zu spät. Die Kugel traf sie im Rücken, nahe dem Herzen, und bereits im Fallen wedelte sie immer noch mit den Armen. Der Kommandant winselte kurz, als müsse er gleich in Tränen ausbrechen, beherrschte sich dann jedoch. Er hatte nichts gegen Tränen, er vertrat sogar die Meinung, dass Soldaten weinen sollten und dass Tränen ein herrliches Mittel zur Entspannung seien, aber genauso meinte er, dass ein Offizier, das heißt ein Soldat mit Rangabzeichen, nie vor den ihm unterstellten Offizieren und gemeinen Soldaten weinen dürfe. Man werde, dachte der Kommandant, noch zu dem Schluss kommen, er sei streng und unterdrücke die Gefühle, sowohl bei anderen Soldaten als auch bei sich selbst, aber nichts wäre weiter von der Wahrheit entfernt. Er sei eigentlich weich wie Watte, dachte der Kommandant, wenn nicht noch weicher. Er betastete seine Arme und Beine, aber sie waren nicht weich. Er fühlte Sehnen, Muskeln, Knochen und Haut, alles war hart und fest, bereit zu jeder Eventualität. Wenn man nicht zu jeder Eventualität bereit ist, dann ist man es zu keiner, gleich wie man darüber denkt, schloss der Kommandant. Er ging zu den Soldaten, überprüfte jeden einzelnen, einen nach dem anderen. Das war nicht einfach. Seine Augen füllten sich mit Tränen, sein Magen verkrampfte sich, sein Händedruck wurde schwächer und sein Herz, dieser alte Verräter, klopfte wie das eines Hasen. Wir warten nicht mehr lange, flüsterte er jedem Soldaten ins Ohr, sobald es dunkler wird, gehen wir los. Er drückte jedem Soldaten die Schulter und legte jedem die Lippen an die Wange. Jedes Mal spürte er die Wange sich straffen, als fürchtete die Haut seine Berührung. Vielleicht ist es immer so, dachte der Kommandant, wenn ein Mann einen anderen Mann küsst, egal ob im Krieg oder im Frieden, ob bei einem Rendezvous oder bei der Verabschiedung von Kriegern, deren Schicksal längst feststeht, das heißt, unabänderlich ist wie in altgriechischen Mythen. Der Kommandant hätte sich jetzt gern vorgestellt, Zeus zu sein, zumal Zeus, der sich in einen Schwan verwandelt, aber dann wandte er sich schnell ab, überzeugt, dass alle ihm auf die Stelle zwischen den Beinen starrten. Der Kommandant irrte sich, das war uns allen außer ihm klar, denn selbst wenn wir dorthin hätten schauen wollen, was wir nicht wollten, hätten wir nichts gesehen. Uns umgab nämlich tiefe Dunkelheit, und die legte sich auf jeden Gedanken, auf jeden unserer Schritte, insbesondere auf die Stimmung. Doch der Kommandant hatte festgelegt, wie das Spiel zu spielen war, er verteilte seine Leute auf die wichtigsten Punkte, er befahl, vorsichtig Puppen aufzustellen, die am nächsten Morgen für Verwirrung sorgen sollten, obwohl er wusste, dass die Täuschung nicht von Dauer sein würde, weil die Unbeweglichkeit der Puppen anfangs unterdrückte Zweifel wecken würde, die sich schließlich erhärteten, so dass der feindliche Kommandant bald drei oder vielleicht vier oder sogar fünf Soldaten – man sollte den Gegner nie unterschätzen! – aussuchen würde, die wie echte Profis in vollkommener Stille den Weg von ihren Stellungen bis zum Kontrollpunkt zurücklegen würden, und zwar so, dass kein Grashalm sich rührte, kein Zweig wippte, kein Vogel zum Himmel aufflog, weil er aus dem Schlaf gerissen wurde oder weil er fremde Gestalten weg vom Nest mit seiner Brut locken wollte. Ja, dachte der Kommandant, für die Vögel sind die Menschen nur fremde Gestalten, mehr nicht. Wenn es anders wäre, wenn Vögel und Menschen echte Freunde wären, würden er und seine Soldaten jetzt in einem Versteck hocken, sorglos und sicher, dass niemand sie je fände. Nein, dachte der Kommandant, niemand wird uns je finden, und da kam ihm auf geheimnisvolle Weise die Eingebung, dem vor ihm schreitenden Soldaten zuzuflüstern, alle sollten, falls eine Leuchtrakete gezündet würde, augenblicklich stehen bleiben und in dieser Position verharren, bis das Licht erlösche. Er fügte hinzu: Gib’s weiter, und sah, wie sich der Soldat zu dem Kameraden vor ihm neigte, und als die Nachricht gerade die Kolonnenspitze erreichte, konnten alle die schmale Spur einer Rakete sehen, die hoch zum Himmel aufstieg, aufblühte und ihr gespenstisches, fahles Licht über den ganzen Hang ergoss. Steif und unbeweglich auf einer Stelle verharrend, sahen die Soldaten aus wie verzauberte Tänzer

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