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Kontrollpunkt

Kontrollpunkt

Titel: Kontrollpunkt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Albahari
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Kommandant erkannte schließlich, dass das Summen, das er hörte, von gegnerischen Soldaten herrührte, die in völliger Unordnung den Hang herunterkamen und sich miteinander unterhielten, was wie das Summen von Bienen klang. Der Kommandant trat ein wenig zurück und neigte den Kopf zur Seite, um mit einem Blick möglichst alle Teilnehmer zu erfassen. Er versuchte sich sein Leben an einem anderen Ort vorzustellen, aber von den stetigen Geräuschen des übellaunigen Feindes gestört, suchte er Mladen auf. Wenn das so weitergeht, sagte er zu ihm, schlittern wir direkt in ein Chaos. Ihre Pflicht sei es, fuhr der Kommandant fort, einen guten Pfad zu finden, der ihn und die Soldaten in Sicherheit bringen würde. Mladen fragte ihn vorsichtig, woher er wisse, welcher Pfad gut sei. Das wisse er nicht, erwiderte der Kommandant, er wisse aber ganz sicher, welche Pfade nicht gut seien, und so könne er leicht per Ausschlussverfahren feststellen, welche Wege gut seien oder am Anfang der Kämpfe gut gewesen wären. Ja, aber was erwarte man dann von ihm, fragte Mladen. Der Kommandant rieb sich das Kinn und die Augen, er war müde, schrecklich müde, obwohl er so dastand und lächelte, dass man hätte meinen können, er sei gar nicht anwesend, aber er war da, womöglich anwesender denn je. Er sagte zu Mladen, er solle zwei Soldaten mitnehmen und die feindliche Meute abpassen, die alles niedermache, was sich ihr in den Weg stelle. Die drei sollten dann einen fingierten Kampf anzetteln und dabei ständig in Bewegung sein mit dem Ziel, die Feinde dazu zu bringen, ihnen zu folgen, aber nicht auf dem Weg, den sie schon zurückgelegt hätten, sondern auf dem anderen, der an dieser Stelle abzweige und über einen entfernten Bergkamm führe. An diesem Weg lägen einige alte Hütten und eine Wassermühle. Einst sei da ein Bach geflossen, der insbesondere im Frühling kräftig das Mühlrad bewegte. Später sei der Bach versiegt und habe nur eine kleine, enge Schlucht hinterlassen. Falls Mladen die Feinde dazu verleiten könnte, in die Schlucht hinabzusteigen, würden diese sie erst verlassen, wenn sie ihren Fehler e ingesehen hätten, aber bis dahin wäre es schon Nacht oder zumindest später Abend, was ihm, dem Kommandanten, erlauben würde, den Bergkamm an einem entfernteren, aber bedeutend niedrigeren Punkt zu überqueren, und von da seien es nur noch ein paar Kilometer bis zu der Sammelstelle aller Einheiten. Mladen nickte nur und ging auf die Suche nach seinen Soldaten. Es waren nicht mehr viele, und keiner, absolut keiner wollte mit ihm gehen. Mladen bat, bettelte, raspelte Süßholz, versprach das und jenes, aber die Soldaten hatten die Nase voll vom Krieg. Soll jemand anderes dieses Spiel spielen, sagte einer von ihnen. Der Kommandant hörte das und war alarmiert. Offene Befehlsverweigerung bedeutete nur eines: Standgericht und höchstwahrscheinlich Erschießung. Prompt bekam er Kopfschmerzen. Er ging zu dem Soldaten, der Mladens Aufforderung zurückgewiesen hatte, und fragte ihn, ob er Ibuprofen oder Aspirin bei sich habe. Der Soldat steckte die Hand in die Tasche und holte eine kleine weiße Pille hervor. Ich brauche kein Valium, sagte der Kommandant. Wenn es die richtige Arznei nicht gibt, ist eine so gut wie die andere, sagte der Soldat, überraschenderweise lächelnd. Der Kommandant zuckte mit den Achseln, schluckte die weiße Pille und, das musste er zugeben, fühlte sich bald viel besser. Man wird nie erfahren, ob der Grund dafür das Beruhigungsmittel oder sein gutes Immunsystem war, aber so ist es mit vielen Dingen: Es ist müßig, lange zu diskutieren oder zu überlegen, entweder man akzeptiert sie, wie sie sind, oder man akzeptiert sie gar nicht. Kein Handeln, kein Feilschen, kein unnötiger Zeitverlust. Es geht um Leben, dachte der Kommandant, in den weißen Schleier des Beruhigungsmittels gehüllt, und nicht um Literatur. Wie zur Bestätigung seiner Gedanken war hinter ihm eine Schießerei zu hören, genau dort, wo Mladen den Feind auf die falsche Fährte locken sollte. Ja, flüsterte der Kommandant zu sich selbst, hätten wir Zeit gehabt, ihnen eine Falle zu stellen, säßen sie jetzt alle drin. Aber wenn es in diesem Krieg an etwas mangelte, dann an Zeit, denn bei näherem Überlegen musste der Kommandant der Tatsache ins Auge sehen, dass ihm die schnelle Abfolge der Ereignisse einfach nicht erlaubte, die Dinge rechtzeitig zu deuten, sie angemessen einzuordnen, ihre grundlegende und kosmische Bedeutung einzuschätzen,

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