Kontrollverlust - Kontrollverlust
besiegeln. Bartmann reagierte nicht, Rünz erklärte das Projekt ›Führung durch Humor‹ für gescheitert. »Todeszeitpunkt?«, fragte er stattdessen knapp.
»Vor zehn bis zwölf Stunden, konstante Raumtemperatur und Körperlokation vorausgesetzt«, sagte Bartmann.
»Wie zum Teufel ist er in diesen Stahlpfeil reingestolpert?«, grübelte Rünz.
»Stolpern ist keine Option.«
Rünz zuckte zusammen. Die Frauenstimme, die diese vier Worte geäußert hatte, schien direkt hinter seinem Nacken zu sprechen. Er drehte sich um, sah Sybille Habich, zum ersten Mal seit einigen Monaten. Er war geschockt. Rünz hatte sie schon bei ihrem letzten Zusammentreffen im Verdacht, die Dienste eines Schönheitschirurgen in Anspruch zu nehmen, diesmal war jeder Zweifel obsolet. Ihre aufgepumpten Lippen standen wie angeklebte Schlauchbootwülste vor ihren Kiefern, ihre Gesichtshaut wirkte grotesk verzerrt, die Brauen hatten jeden örtlichen Bezug zu den Augen verloren, sie lagen wie zufällig verteilte, abstrakte Pinselstriche wahllos auf der Stirn herum. Ihre Mundwinkel waren zu einem perfiden Dauergrinsen verzogen; sie hätte ohne Weiteres den Joker in einer Batman-Verfilmung geben können. Wahrscheinlich hatte ihr kümmerliches BAT-Gehalt sie genötigt, einen Kurpfuscher in Polen oder Tschechien aufzusuchen.
Rünz bemerkte, wie ihm bei dem gewöhnungsbedürftigen Anblick der Gesichtsausdruck entglitt, er musste sofort gegensteuern. Wie würde Hoven in so einer Situation agieren? Forsch und jovial streckte er seine Hand aus, wie Herr Kaiser von der Hamburg-Mannheimer beim Kundenbesuch. »Frau Habich, schön, Sie zu sehen!« Er schaute sie einmal von oben bis unten an. »Mein Gott, Sie sehen fantastisch aus. Sie sind die einzige Frau, die ich kenne, die einfach immer jünger wird!«
Rünz bemerkte am Rande seines Blickfeldes, wie Bartmann und Wedel sich in Deckung brachten. Sie schienen mit einer handfesten Auseinandersetzung ob dieser unverschämten Lüge zu rechnen. Aber Habich errötete nur leicht und gab Rünz brav die Hand.
»Danke, Ihnen stehen die längeren Haare aber auch ganz gut«, sagte sie. Rünz war perplex, ein Kompliment hatte er schon lange nicht mehr bekommen.
Die gepimpte Frau Habich kam gleich zur Sache. »Nehmen wir an, er hat aus irgendeinem Grund das Gleichgewicht verloren und ist rücklings in Richtung Werkbank gekippt. Dann wäre sein Körper beim Aufprall in stärkerer Schräglage gewesen, der Dorn wäre nicht horizontal, sondern in einem leichten Anstellwinkel eingedrungen, und zwar weiter oben. Nein, so sieht es aus, als wäre er in zügigem Tempo aufrecht rückwärts in den Dorn hineingelaufen. Als wäre er vor etwas zurückgeschreckt, oder von irgendwas oder irgendwem zurückgedrängt worden.«
Bevor Bartmann etwas erwidern konnte, ergriff Ansgar Wedel das Wort. Rünz’ Assistent hatte das Büro verlassen und sich unbemerkt zu den dreien gesellt. »Lars Schmucker heißt der Typ, Schlossermeister«, sagte er. »Der Laden hier gehört ihm. Er beschäftigt niemanden, außer dem Altgesellen, der ihn heute Morgen gefunden hat.«
Wedels hautenges Kunstfasershirt sah auf seinem muskelbepackten Oberkörper aus, als hätte die chinesische Näherin irrtümlich Vorder- und Rückteil aus völlig verschiedenen Kollektionen zusammengefügt. Vorne prangte auf blauem Grund die stilisierte weiße Lilie des Darmstädter SV98, hinten auf lindgrünem Stoff das Logo des Scirocco-Clubs Bergstraße. Was für eine präzise Selbstdarstellung, dachte Rünz. Fußball, Autotuning, Bodybuilding. Nicht mehr und nicht weniger.
»Was ist mit Angehörigen? Müssen wir noch jemanden besuchen?«, fragte Rünz ihn.
»Verheiratet, kinderlos. Seine Frau hatte einen Zusammenbruch, als der Geselle sie informiert hat. Liegt im Alice-Hospital«, informierte Wedel ihn.
»Was hat unser Schmied hier mitten in der Nacht in seiner Werkstatt gemacht? Haben die Nachbarn vorne in den beiden Reihenhäusern etwas gehört oder gesehen?«, fragte Rünz und schaute durch die Stahlsprossen des Werkstattfensters auf der Westseite. Die Schlosserei lag in den Odenwald-Ausläufern, einige Kilometer südöstlich von Darmstadt, zwischen Traisa und Ober-Ramstadt, hinter einer alten Industriebrache, die Jahre zuvor von einem Metallveredelungsbetrieb genutzt worden war. Ein Immobilieninvestor hatte sich bei der Vermarktung des Altstandortes verkalkuliert, statt der geplanten vier Reihenhauszeilen standen nur zwei schmale Solitäre mit nackten, unverputzten
Weitere Kostenlose Bücher