Kontrollverlust - Kontrollverlust
seines gesamten Oberkörpers auf irgendetwas hinter dem Rücken des Opfers. Es knarzte, der leblose Körper verlor seine dekorative Pose – die Leichenstarre war entweder noch nicht voll ausgebildet oder klang schon wieder ab – der Kopf kippte nach vorne, die Kniegelenke knickten wie bei grotesk überzeichneten X-Beinen nach innen ein. Der Körper sackte in die Arme der beiden anderen Mitarbeiter, die ihn vorsichtig bäuchlings in die Stahlwanne legten. Rünz konnte jetzt den mächtigen, gusseisernen Schraubstock an der Werkbank erkennen. Aus dem Rücken des Toten, direkt neben der Wirbelsäule, ragte auf Höhe seines unteren Rippenbogens ein dreißig Zentimeter langer geschmiedeter Stab, das Ende auf einer Länge von schätzungsweise fünf Zentimetern abgeflacht und eingekerbt wie die Befiederung eines Bogenpfeiles. Das geronnene Blut bildete auf dem Stoff des Unterhemdes des Toten eine handtellergroße Fläche rund um die Wunde.
Rünz trat zur Werkbank. Rund zwanzig Stäbe gleicher Bauart lagen auf der Arbeitsplatte, die Hälfte davon links des Schraubstocks mit roh geschmiedeten Enden, denen man die Hammerschläge noch ansah, die andere Hälfte rechts davon mit akkurat nachbearbeiteten, glatt gefeilten Endstücken. Das Werkzeug für diesen Arbeitsgang, eine mächtige Flachfeile mit einem verölten Griff aus altem Eichenholz, lag zwischen den Metallstäben.
Der Kommissar beschloss, seine Führungsqualitäten mit seiner effektivsten Waffe unter Beweis zu stellen – Humor. Er baute sich neben dem Sarg auf, schloss die Augen und legte die Fingerspitzen an die Schläfen, wie ein Medium bei der Kontaktaufnahme mit dem Jenseits.
»Sagen Sie jetzt nichts, Herr Bartmann«, raunte er. »Ich habe eine Eingebung! Ich, ich sehe einen Toten, mit einer, einer Stichwunde, am Rücken, circa zehn Zentimeter tief, verursacht durch einen runden, spitzen Metallstab mit einem Zentimeter Durchmesser.«
»Gibt’s im Präsidium eigentlich jemanden, der über Ihre Sprüche lacht?«, fragte Bartmann.
»Leider immer weniger. Der Nachwuchs hat keinen Sinn mehr für Humor, die denken alle nur noch an Karriere. Aber ich dachte, bei Ihnen kann ich’s mal versuchen. Sie sind Kriegsgeneration, Sie haben keine hohen Ansprüche.«
»Was Humor angeht, schon«, knurrte Bartmann, zog dem Toten die Hosen herunter und widmete sich routiniert der rektalen Temperaturmessung.
Können Sie ihn wiederbeleben?«, erkundigte sich Rünz mit Blick auf den leblosen Körper. »Ich habe im Moment überhaupt keine Zeit für Ermittlungen. Schreibe gerade einen Krimi.«
»Ach, komme ich da auch drin vor?«, interessierte sich der Rechtsmediziner.
»Ich bitte Sie! Nichts für ungut, Herr Bartmann, aber dieser Roman soll gekauft werden! Mein Rechtsmediziner ist Anfang zwanzig, hat noch alle Zähne, volles Haar, einen Waschbrettbauch und kann das Wort ›Prostataprobleme‹ nicht mal buchstabieren. Aber warten Sie mal …« Rünz schaute aufwärts, als erwarte er wieder eine Eingebung von ganz oben. »Ja, natürlich! Ich könnte Sie als eine Art Albus Dumbledore im Rechtsmedizinischen Institut positionieren. Sie könnten ab und zu mystische Sprüche absondern, wie ›Du bist der Ausgeweidete‹, ›Die heilige Fliegenmade sei mit dir‹ oder ›Such das goldene Skalpell, es wird dir den Weg weisen‹. Ein paar Fantasyelemente haben noch keinem Roman geschadet. Also, was ist jetzt mit der Reanimation?«
Bartmanns Antwort war ein genervtes Knurren. Er stand wieder an der Fensterbank vor den Glasbausteinen und verglich seinen Messwert mit einigen Referenztabellen, die er in seinem Laptop gespeichert hatte. Der Kommissar ließ nicht locker.
»Gut, dann eben keine Wiederbelebung. Also ein klassischer Arbeitsunfall. Können wir uns darauf einigen? Kommen Sie, vermiesen Sie uns beiden nicht das Wochenende.«
»Ich teile Ihnen nächste Woche die Todesursache mit, Sie ermitteln den Hergang. Klassische Arbeitsteilung. Hat sich bewährt.«
»Todesursache? Machen Sie Witze? Der hat einen Stahlpfeil in der Leber, was wollen Sie da noch groß untersuchen?«
»Ob die Stichverletzung letale Wirkung hatte, wissen wir erst in zwei Tagen. Außerdem kann sie Folge von Gleichgewichtsstörungen oder Orientierungslosigkeit gewesen sein, verursacht durch Intoxikation, Herzversagen, glykämischen Schock – alles ist möglich.«
»Prima, Herzversagen! Damit kann ich leben.« Rünz streckte dem Rechtsmediziner die Rechte hin, als wollte er einen Gebrauchtwagenhandel
Weitere Kostenlose Bücher