Kontrollverlust - Kontrollverlust
unbescholtene Bürger versandten. Die Fluktuation war hoch, keine Woche verging, ohne dass einer von Weilers Zellennachbarn sang- und klanglos verschwand und dafür ein neuer einzog.
Um potenziellen Kunden glaubwürdig das Arbeitsumfeld einer internationalen Unternehmensberatung vorzutäuschen, nahm er die Dienste des Business Centers in Anspruch, das auf drei Etagen im SkyRise-Büroturm an der Taunusanlage mitten in der Frankfurter City seine Leistungen anbot. Das SkyRise fungierte so als offizielle und repräsentative Adresse der PCC, der gesamte Briefverkehr lief über diese Agentur, und eingehende Anrufe wurden von einer perfekt geschulten Mitarbeiterin des Business Centers angenommen und dann zu ihm nach Niederrad durchgestellt. Da Weiler die Dame nur anteilig für die tatsächlich geleistete Telefonkorrespondenz bezahlen musste, und Schriftsätze ohnehin selbst in den Computer tippte, konnte er sich die Finanzierung einer Ganz- oder Halbtagskraft für ein Sekretariat sparen.
Standen Kundentermine an, konnte ihm das Business Center kurzfristig einen Konferenzraum mit der notwendigen technischen Infrastruktur zur Verfügung stellen, zu einem durchaus moderaten Tagessatz. Auf Wunsch nahm eine Mitarbeiterin des Centers die Besucher sogar am Aufzug im Namen der PCC in Empfang. Selbst bei etwas ausgefallenen Wünschen wie der temporären Montage eines Firmenschildes zeigte man sich kooperationsbereit und kundenorientiert.
Dieses Geschäftsmodell wurde als ›Virtual Office‹ offensiv und mit Erfolg vermarktet, ohne dass einer der Beteiligten bei dem Etikettenschwindel einen schalen Beigeschmack hatte.
Die PCC-Maskerade war natürlich alles andere als perfekt – eine kleine Recherche zu den internationalen Projektreferenzen, die Weiler im Internet und bei Meetings mit Kunden gerne als Leistungsnachweis präsentierte, hätte die Luftnummer sofort platzen lassen. Aber manche Kunden wollten es gar nicht so genau wissen. Manche wollten betrogen werden. Und das waren genau die Kunden, die André Weiler suchte.
Mit dem Hörer noch immer am Ohr wurde Weiler plötzlich hellwach, im unendlichen Redestrom seiner Partnerin hatte er eine wichtige Information identifiziert.
»Wie bitte?«, fragte er entrüstet. »Vergiss das. Du kannst ihn hier jetzt nicht vorbeibringen. Ich habe in zehn Minuten eine wichtige Besprechung.«
Inge erklärte etwas von einer akuten Sache und einer Untersuchung bei ihrem Gynäkologen, aber er hatte keine Lust, sich auf eine Diskussion einzulassen.
»Das interessiert mich nicht, nimm ihn mit zum Arzt. Ich kann mich hier nicht um ihn kümmern.«
Sie ließ nicht locker, fing an, ihm vorzuwerfen, er habe mit der festen Beziehung auch Mitverantwortung für das Kind übernommen.
»Hör zu«, unterbrach er sie wieder. »Wir haben eine ganz klare Aufgabenteilung. Ich bringe das Geld nach Hause, du kümmerst dich um den Rest. Soll ich meinem Kunden gleich erzählen, ich könnte mir keinen Babysitter leisten …«
Sie hatte aufgelegt. Na gut. Hoffentlich hatte sie die Botschaft verstanden. Weiler legte sein Handy ab und schaute auf die Uhr. Noch fünf Minuten. Er beobachtete erneut die Fensterputzer in ihrer Aluminiumgondel. Der offenbar Alteingesessene schlich auf den Ängstlichen zu, der ihm den Rücken zugewandt hatte, und packte ihn schlagartig mit beiden Händen am Nacken. Das Opfer des derben Scherzes zuckte zusammen und ließ vor Schreck seinen Wischlappen über Bord gehen. Weiler lachte und beobachtete die folgende verbale Auseinandersetzung.
Was, wenn Inge doch mit dem Kleinen vorbeikam und mitten in sein Meeting mit dem Kommissar platzte? Er stand auf und beschloss, kein Risiko einzugehen. Er würde die Sekretärin draußen bitten, notfalls ein paar Minuten auf Kevin aufzupassen.
7
Rünz rieb sich die Hände mit einem desinfizierenden Tuch ab, riss die Verpackungsfolie seines Plastikbestecks auf, nahm Messer und Gabel heraus und rieb beide noch mal mit einem neuen Tuch ab. Dann nahm er sein digitales Fieberthermometer aus der Hosentasche, zog die Kappe ab, wischte die Spitze mit einem dritten Tuch ab, steckte sie so gefühlvoll und tief in die Frikadelle wie Bartmann bei der rektalen Temperaturmessung am toten Schlosser. Rünz wartete, bis ein schwaches Piepsen ertönte. Fünfundachtzig Grad – hervorragend.
Sein Schwager Klaus Brecker saß auf der anderen Seite des Tisches, starrte schweigend an ihm vorbei und schaufelte mit seiner mächtigen Pratze, in der die Gabel aussah
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