Kontrollverlust - Kontrollverlust
Gründungsplatte errichtet worden, die in über zehn Metern Tiefe unter der Geländeoberkante das Fundament bildete. Außergewöhnliche Setzungen und Verkantungen des Bauwerks offenbarten Ende der 90er-Jahre eklatante Mängel der Gebäudegründung; sie war den spezifischen Anforderungen des Baugrundes in Frankfurt nicht gewachsen. Der ›Frankfurter Ton‹, plastisch verformbare geologische Schichten im Untergrund, forderte seinen Tribut. Zwar war die Standsicherheit des Gebäudes nie gefährdet, aber die Haustechnik kam an ihre Grenzen. Die Neigung des Hochhauses – der einhundertzwanzig Meter hohe Turm wich am höchsten Punkt über zwanzig Zentimeter von der Lotrechten ab – machte einen störungsfreien Betrieb der Personenaufzüge ab dem Januar 2005 unmöglich. General Enterprises verlagerten ihre Zentrale in einen der futuristischen Glastürme, die seit den 90er-Jahren in unmittelbarer Nachbarschaft auf sicheren Gründungen entstanden. Seitdem rechneten die Real-Estate-Experten in der neuen GE-Zentrale Varianten für die Zukunft des alten Turmes durch, holten sich Gutachten von Geotechnikingenieuren ein, kalkulierten Rückbau und Neubebauung gegen Sanierungs- und Vermarktungsoptionen, diskutierten mit der städtischen Denkmalpflege, die den Turm als stilbildende Hochhausarchitektur der 70er-Jahre unter Schutz stellen wollte.
Seit dem Auszug der GE-Mitarbeiterschaft stand der Turm die meiste Zeit leer. Ein Facility-Management-Unternehmen kümmerte sich im Auftrag des Eigentümers um die notwendigen Instandhaltungsarbeiten an der Haustechnik, hielt Heizungs- und Sanitäranlagen in Schuss, beauftragte Tonis Chef für die Fassadenreinigung. Ein Sicherheitsdienst schützte die Immobilie vor Vandalismus. Um die laufenden Kosten für den Leerstand im Rahmen zu halten, vermittelte ein Makler ab und an einzelne Geschosse oder Büros tage- oder wochenweise an eine illustre Gruppe von Interessenten – Location Scouts, die für Filmproduzenten arbeiteten, Foto- und Werbeagenturen, Couturiers, Künstler, Eventagenturen. Die Kreativbranche liebte das bizarre, seltsam entrückte Retro-Ambiente mitten in der geschäftigen Mainmetropole, und da die beiden Lastenaufzüge auf der Südseite des Hochhauses nach wie vor einwandfrei funktionierten, konnte das notwendige Equipment und Catering problemlos transportiert werden.
Ab und an erhaschte Toni einen interessanten Blick durch die Glasfassade, eine willkommene Ablenkung von seiner stupiden Tätigkeit. Ein paar Tage zuvor hatten sie sogar einigen wirklich ansehnlichen Models beim Umziehen auf die Ärsche schauen können. Aber heute war absolut nichts los im Turm. Toni fragte sich, warum die Eigentümer ihn überhaupt reinigen ließen.
Die Erfolgserlebnisse wollten sich nicht so richtig einstellen bei diesem Job. Im Kran arbeitete er an einem Gebäude mit, das ein paar Jahrzehnte stehen würde. Aber hier? Oft kackten die verdammten Stadttauben unter ihnen die frisch geputzten Scheiben schon wieder voll, während sie ein Stockwerk drüber den vertrockneten Mist vom Glas kratzten. Manche Vögel hatten die Technik richtig perfektioniert – Anflug mit Topspeed, Steilkehre kurz vor der Glasfläche, Schließmuskel auf im Scheitelpunkt der Kurve und zielgenau einlochen. Wenn man ihn ließe, würde Toni hier oben mit einer Schrotflinte aufräumen.
Zwei Monate brauchten sie, um einem Hochhaus vom Format des GE-Turmes eine komplette Dusche zu verpassen, zweiundzwanzigtausend Quadratmeter Glasfläche, dreihundert Quadratmeter pro Tag, drei Minuten Zeit für ein Fensterelement von drei mal zweieinhalb Metern. Ab Windstärke 5,7 war Schluss, dann mussten sie am Boden bleiben, und die Sache zog sich in die Länge. Die meisten Kollegen freuten sich über Tiefdruckgebiete, simsten sich gegenseitig die Wetterberichte zu. Toni war da anders. Er erledigte gerne Sachen, die er angefangen hatte.
Die Betreibergesellschaften gönnten ihren Frankfurter Bürotürmen meist zweimal im Jahr eine Ganzkörperpflege, für die sie jeweils rund fünfundzwanzigtausend Euro an Tonis Chef überwiesen. Der Chef sprach natürlich nicht über solche Zahlen, aber Toni hatte auf einer Weihnachtsfeier im Büro in Bornheim zufällig einen Blick in einen Vertragsentwurf werfen können. Lohnkosten für zwei Mitarbeiter, Arbeitgeberanteile für die Sozialversicherung, ein paar Euro für Reinigungsmittel, keine Lagerhaltung, keine teuren Maschinen, kein großer Fuhrpark – so ein Auftrag brachte seinem
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