Kontrollverlust - Kontrollverlust
Tasche?«
»Ich werde das regeln. Auf meine Weise«, antwortete Brecker leise und entschlossen, ohne Rünz anzusehen, als würde er zu sich selbst sprechen. Er hatte sein Püree verdrückt, jetzt zog er sein Tablett wieder heran und widmete sich der fetttriefenden Bratwurst auf seinem Teller. Er stieß die Gabelspitzen durch den prall gefüllten Schweinedarm, langsam, aber mit Nachdruck, und beobachtete fasziniert, wie der Saft aus den Löchern herauslief. Wie der Schlitzer in meinem Vince-Stark-Plot, dachte Rünz.
8
»Fall nicht runter!«, rief Toni.
»Du Arschloch«, zischte sein neuer Kollege, er hatte sich vor Schreck fast in die Hose gemacht.
»Sorry«, lachte Toni, »aber da müssen alle Neuen durch.« Das wird nichts, dachte Toni, und schaute dem Lederlappen nach, der wie ein riesiges herbstliches Kastanienblatt Richtung Straße schwebte. Sein neuer Kollege hielt Lammfell und Abzieher umklammert wie Sicherheitsgriffe, viel zu zaghaft wischte er über die verspiegelte Glasfläche, als hätte er Angst, etwas kaputtzumachen.
»Du musst da richtig mit Schmackes drübergehen, sonst geht die Vogelscheiße nicht richtig runter«, sagte Toni.
»Aber wenn ich fester drücke, bewegt sich die ganze Gondel«, jammerte der Neue.
»Na und? Auf dem Rummel legen die Leute acht Euro hin, um Achterbahn zu fahren. Und uns bezahlen sie dafür. Und mach’s mit beiden Händen. Hör auf, dich festzuhalten, dein Gurtzeug sichert dich.«
Der Neue grinste gequält und hielt weiter mit der Linken den Aluminiumhandlauf umklammert. Zu viel Angst, dachte Toni. Ein bisschen Nervosität und Respekt vor der Höhe waren in Ordnung, an den ersten Tagen. Aber nicht richtige Angst. Die ging nie mehr weg. Sie waren ja noch nicht mal fünfzig Meter hoch. Wie sollte das erst oben werden, in hundertfünfzig Metern Höhe, wenn der Westwind auf der Leeseite des Turmes Turbulenzen bildete und die Gondel in unangenehme Schwingungen versetzte?
Toni hatte zwanzig Jahre als Kranführer gearbeitet, die meiste Zeit auf Baustellen hier in der Frankfurter City. Einige der Hochhäuser, deren Fassaden er jetzt putzte, hatte er mit aufgebaut – Trianon, Maintower, Westendtower, Japan-Center. Die Arbeit im Turmkran war verantwortungsvoller und technisch anspruchsvoller als die Putzerei, aber zu einsam. Die Achtstundenschichten alleine in seinem stählernen Adlerhorst hatte er nicht mehr ausgehalten. Hier in der Gondel war er immer mit einem Kollegen zusammen, mit dem er sich unterhalten konnte. Außerdem war immer was los auf der anderen Seite der Scheibe. Das Leben in den Hochhäusern hatte so seine eigenen Regeln. Manchmal kam er sich an diesen Glastürmen vor wie ein winziger Betrachter eines riesigen Aquariums. Aber im Gegensatz zum Fischbecken, in dem Groß und Klein munter durcheinanderschwammen, galten hier klare Regeln. Unten drängten sich die Guppys und Goldfischchen in ihren Großraumbüros, und oben lauerten die Hechte und Welse in ihren riesigen Lofts. Wenn sich Toni einen Tag lang mit seinem Kollegen eine Fensterzeile hocharbeitete, war der Morgen meist kurzweilig und unterhaltsam. Sie machten Späße und Faxen mit den Leuten in den Büros, ab und an ergab sich ein harmloser kleiner Flirt per Zeichensprache mit einer der Sekretärinnen auf der anderen Seite. Mit zunehmender Höhe nahm die Kontaktbereitschaft hinter der Glasscheibe ab. Vom mittleren Management an aufwärts wurden sie völlig ignoriert, und in den Vorstandsetagen der obersten Stockwerke gingen meist die Sonnenblenden runter, wenn einer der Bonzen sie vor dem Fenster entdeckte. Nur oben am Commerzbank-Tower, direkt unter dem Dach, hatte irgendein oberschlauer Innenarchitekt die Pissbecken im Männerklo direkt vor die Fenster gebaut, damit die Investmentbanker beim Strullen die Aussicht genießen und sich entspannen konnten. Toni hatte sich damals im Hochsommer vor diesem Fenster eine halbe Stunde Zeit genommen, nur um die dummen Gesichtsausdrücke der Schlipsträger zu sehen, wenn sie sich nicht entscheiden konnten, ob sie auf Sichtweite mit der Unterschicht ihr edles Gemächt auspacken sollten. Aber hier am GE-Turm starb er beinahe vor Langeweile – der Turm stand fast völlig leer.
Der GE-Turm an der Taunusanlage gehörte zur ersten Hochhausgeneration in Frankfurt. Der Finanzkonzern General Enterprises hatte das Gebäude über fünfundzwanzig Jahre lang als europäisches Hauptquartier genutzt. Die Stahlbetonkonstruktion war 1972 auf einer knapp drei Meter dicken
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