Kontrollverlust - Kontrollverlust
Vielleicht hatte er den Kleinen unterschätzt. Draußen auf der Straße, in Eberstadt-Süd oder in Kranichstein, hatte Weedle eine maximale Lebenserwartung von zehn Minuten. Aber wenn Stark ihn ein wenig unter die Fittiche nahm, konnte er vielleicht noch ganz nützlich sein.
»Okay. Was weißt du über Delgados Plan, Kleiner?«
»Delgado hat schon vor drei Jahren im Hochzeitsturm heimlich einen phasenoptimierten Plasmatronen-Fibrillator installiert. Er will die Keimzellen aller Brautpaare, die in den nächsten Jahren im Hochzeitsturm heiraten, reprogrammieren. Alle Nachkommen, die diese Paare fortan zeugen, werden die gleiche Mutation in ihrem Genom aufweisen. Er kann sie über diesen Gendefekt mit seinem Positronen-Perforator von seinem Geheimlabor im Office-Tower aus manipulieren und fernsteuern.«
»Nicht schlecht, Freshman. Und warum hat er die junge Braut umgebracht?«
»Sein Versuchsobjekt. Er musste ihre Eierstöcke untersuchen, um herauszufinden, ob sein Fibrillator funktioniert.«
»Braver Junge«, lobte Stark anerkennend. »Aber was fehlt Delgado noch für den Dauerbetrieb seiner Teufelsmaschine?«
»Eine Energiequelle …«
Besser konnte es nicht laufen. Eine Prise ›Stirb Langsam‹, ein Schuss ›Lethal Weapon‹, eine Portion Buddy-Story mit einem neuen Juniorpartner als Sidekick für den Helden – Rünz wurde von Seite zu Seite besser. Jetzt kam wieder Schwung in die Sache, er arbeitete wie im Rausch bis tief in die Nacht, hackte Zeile um Zeile in die Tastatur.
Inspiriert von Kiefer Sutherlands 24-Serie beschloss er spontan, seinen Vince-Stark-Plot als ersten Echtzeitthriller der Belletristikgeschichte anzulegen. Er war recht zuversichtlich, damit das gesamte Genre zu revolutionieren. Für das Problem der differierenden persönlichen Lesedauer – der eine Leser verschlang ein Buch in zwei Tagen, der andere nahm sich vier Wochen Zeit – hatte er eine elegante Lösung gefunden. Am Beginn jedes Kapitels platzierte er einen dezenten Hinweis – eine Art Leseanweisung mit dem zu veranschlagenden Zeitraum für die Lektüre. So viel Disziplin musste man von seinen Fans erwarten können.
Als Gegenleistung bot Raoul Rockwell (oder doch Cårl Runssøn?) seinen Lesern eine atemberaubende Tour de Force durch Darmstadt und das Umland, einen sechzehnstündigen Showdown ohne Durchhänger, einen temporeichen Reißer, der an exotischen Schauplätzen wie Eschollbrücken, Goddelau, Weiten-Gesäß und Wixhausen spielte. Rünz ließ einfach nichts aus – Dschungelkrieg im Naturschutzgebiet Kühkopf im Hessischen Ried, eine Verfolgungsjagd mit Offshore-Powerbooten auf dem Großen Woog, ungeheuerliche Autostunts am Darmstädter Kreuz, eine von Delgados Schergen entführte Ariadne-Rakete am European Space Operations Center in der Weststadt und eine nervenzerfetzende Traktorenrallye auf dem Bauernmarkt in Hoxhohl. Und zwischendurch, ganz unvermittelt, gönnte er dem Leser immer wieder Einblicke in die seelischen Abgründe seines Helden, eine kurze Sicht auf das Meer an Schmerz, das dieser einsame Jäger in sich spürte.
Und erst diese geniale Idee mit den Zeitschleifen! Der fiktive Bösewicht und Mad Scientist Delgado hatte einen der Teilchenbeschleuniger in Arheilgen so manipuliert, dass er nach Belieben Falten im Raum-Zeit-Kontinuum erzeugen konnte, die seinen Verfolger Vince Stark immer dann zurückwarfen, wenn er kurz davor war, den Wahnsinnigen zu fassen. Da Stark bestimmte Szenen immer wieder erlebte, zum Beispiel seinen furchtbaren Kater gleich zu Beginn des Romans, hatte Rünz nicht nur ein unerschöpfliches Repertoire an Running Gags, er konnte auch ganze Textpassagen via copy & paste mehrfach verwenden – eine pfiffige Strategie, die sein Manuskript innerhalb kürzester Zeit auf eine stattliche Seitenzahl brachte.
20
»Ich hasse Amateure«, grummelte der Spediteur. Er hatte einen erloschenen und zerknautschten Zigarrenstummel im Mundwinkel, sein fleischiges Gesicht dominierte eine blaurot verfärbte, völlig verquollene Säufernase und unter seinem speckigen blauen Kittel schob er ordentlich Bauchfett vor sich her. »Mit einem Amateur haben Sie mehr Arbeit als mit zehn Profis. Diese Spinner, die glauben, sie könnten schnell mal eine alte Corvette aus Idaho importieren und die Zollformalitäten mit links selbst erledigen.«
Wedel überquerte mit dem Unternehmer die Ladezone der Spedition, an den Rampen standen Lkws, Arbeiter schoben mit flachen Hubwagen Paletten in die
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