Kontrollverlust - Kontrollverlust
verschwammen. Die Bühne des Dramas – hier die Trümmerlandschaft einer zerbombten Stadt, dort die weiten Prärien Nordamerikas – was machte das für einen Unterschied? Die Akteure des Schauspiels waren ebenso austauschbar – hier General Custers todesmutige Soldaten gegen eine Übermacht blutrünstiger Indianer, dort die furchtlosen Darmstädter Polizisten im Kampf gegen die Anarchie in den Ruinen. Was zählte, war das gute Ende. Die Wiederherstellung von Recht und Ordnung durch den Einsatz starker Waffen.
Und hätte der Makler Brecker nicht aus seiner inneren Versenkung geholt, dann hätte ihn seine Zeitmaschine vielleicht noch weiter in die Vergangenheit getragen, bis in die Jugendjahre seines Großvaters, dem stolzen Mitglied der hundertachtunddreißig Mann starken Darmstädter Vollzugspolizei kurz vor dem Ersten Weltkrieg. Vielleicht sogar bis zu seinem prägenden Kindheitserlebnis in den ersten Maitagen des Jahres 1891.
»Wir könnten den Vorvertrag gleich klarmachen, wenn Sie hier und hier unterschreiben würden …« Brecker schüttelte den Kopf und rieb sich die Augen, er hatte Mühe, wieder in die Realität aufzutauchen. Der Makler hatte vor ihm auf einem alten Aktenschrank einige Papiere zur Unterzeichnung ausgelegt und bot ihm einen Kugelschreiber an.
19
Hoven hatte ganze Arbeit geleistet. Am Haupteingang des Präsidiums hing ein zusätzliches Schild aus gebürstetem Edelstahl mit der Aufschrift ›SUSC Darmstadt‹, und an Rünz’ Türschild war der ›Leiter Ermittlungsgruppe Darmstadt-City‹ erweitert um die Funktion ›National Account Manager Science Crime‹.
Rünz traute sich kaum noch an seinen Schreibtisch, seit die Haustechniker seine SUSC-Telefon- und Mailanschlüsse freigeschaltet hatten. Er hatte strikte Anweisung von Hoven, sich bei Anrufen über diesen Anschluss mit ›SUSC Darmstadt, mein Name ist Karl Rünz, was kann ich für Sie tun?‹ zu melden. Entwürdigend. Er arbeitete doch nicht in einem Callcenter! Für eine zusätzliche Sekretärin hatte es natürlich nicht gereicht. Möglichst großer Showeffekt mit minimalem Einsatz, so sah Hovens Strategie mal wieder aus. Die Kollegen im Präsidium hatten die Nummer natürlich nach wenigen Stunden herausbekommen und quälten ihn seit Tagen mit Kalauer-Calls. Rünz hörte die Mailbox ab. ›Hallo, Daniel Düsentrieb hier, Sie müssen sofort kommen, ich habe Donald heute morgen tot im Labor gefunden. Sieht ganz nach Stopfleber aus.‹ – ›Dr. Frankenstein hier. Verbinden Sie mich sofort mit der Rechtsmedizin, ich brauche noch zwei Arme und einen Unterschenkel.‹ – ›Bruce Banner am Apparat. Rünz, Sie sind meine letzte Chance. Mein Schwanz leuchtet grün und hört nicht mehr auf zu wachsen!‹ – ›Mr. Burns vom Kontrollzentrum AKW Biblis. Homer ist in den Druckbehälter gefallen – das ist Ihr Fall, Kommissar Rünz!‹
Nur einer fehlte seltsamerweise bei den Anrufern. Einer, der bei solchen Späßen normalerweise in der ersten Reihe stand – Brecker.
Wenn der Kommissar Hovens Idee für diese ›Strike Unit Science Crime‹ auch für pürierten Kamelmist hielt, so hatte ihm sein Chef mit der Idee doch geschmeichelt. So ganz unrecht hatte Hoven ja nicht, er war im Wissenschaftsbetrieb schon ein wenig herumgekommen. Vielleicht konnte er den Ansatz ja irgendwie für seinen Roman verwursten. Also googelte er ein wenig im Umfeld der Wissenschaftsstadt Darmstadt und stieß nach einer Stunde auf das Helmholtzzentrum für Schwerionenforschung im Stadtteil Arheilgen. Da war von Linearbeschleunigern, Speicherringen und Synchrotonen die Rede – der Kommissar erinnerte sich vage an einen reißerischen Bild-Artikel über einen Teilchenbeschleuniger in Genf, vor dem einige halbseidene Wissenschaftler warnten, weil er angeblich nach Inbetriebnahme schwarze Löcher produzieren könnte. Eine prima Vorlage. Also schnell den Hörer neben das Telefon gelegt, das ›Besprechung‹-Schild an die Tür und ran an die Tasten.
Der Aschenbecher auf Hoovers Schreibtisch klapperte auf der Tischplatte im schnellen Rhythmus des Schlagzeugers, der sich hoch oben über ihren Köpfen, im Erdgeschoss der Oetinger-Villa, die Seele aus dem Leib drosch. Das Jugendzentrum in der Kranichsteiner Straße war zwar die ideale Tarnadresse für das CTU-Headquarter, aber manchmal übertrieben es die jungen Leute mit der Beschallung. Vince Stark klopfte im Gleichtakt mit den Fingerknöcheln auf den Schreibtisch seines
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