Kontrollverlust - Kontrollverlust
einer lässigen Handbewegung zum Schweigen. Jetzt hing alles an ihr. Eine goldene Zukunft als hofierter Bestsellerautor – Deutscher Buchpreis inklusive – oder schnöde Kärrnerarbeit im Polizeipräsidium Südhessen. Justitia sprach ihr Urteil, und der Leiter der Ermittlungsgruppe Darmstadt-City sank deprimiert in seinem Stuhl zusammen.
18
Unter der offenen Decke hingen Kabelbrücken und Lüftungskanäle, Brecker stand mit dem Makler auf dem rohen Estrich, einige Baulampen auf Metallständern erhellten den rückwärtigen Teil des Raumes. »Wie ich Ihnen am Telefon schon sagte, sieht alles ziemlich roh aus. Aber vielleicht genau das Richtige für Ihre Produktion. Vier Wochen brauchen Sie das Büro?«
»Genau«, murmelte Brecker. Er mochte den Makler nicht. Zu viel Solarium, zu viel Gel in den Haaren, zu teurer Anzug. Und diese alberne Ledermappe, in der er das Exposé herumtrug. Brecker zog seinen Laser-Entfernungsmesser aus der Tasche. Lieber noch mal nachmessen, vielleicht waren die Angaben in den Plänen nicht ganz korrekt. Am Ende konnte die ganze Sache an einigen fehlenden Zentimetern scheitern. Dann trat er zu der Fensterfront und begann, am gegenüberliegenden SkyRise-
Turm von unten die Stockwerke durchzuzählen. Die Geschosshöhen entsprachen nicht exakt denen im GE-Turm, sie standen im achtunddreißigsten Stockwerk, der zweiundvierzigste im Gebäude gegenüber lag exakt auf gleichem Höhenniveau. Genau wie vorausberechnet.
»Sie sind tatsächlich Location Scout?«, fragte der Makler etwas ungläubig.
»So was Ähnliches«, antwortete Brecker.
Der Makler trat zum Fenster. »Unglaublicher Blick, finden Sie nicht?«, schwärmte er. »Japan-Center, Opernturm, Commerzbank, SkyRise – alle zum Greifen nahe. Ihr Regisseur wird begeistert sein.«
»Ja«, murmelte Brecker und steckte seinen Entfernungsmesser wieder in die Tasche. »Und genau die richtige Höhe.«
Am SkyRise-Turm gegenüber wurde ein Fensterelement gekippt, die Sonne spiegelte sich für den Bruchteil einer Sekunde auf der schräg gestellten Glasfläche und blendete Brecker wie ein Blitzlicht. Der Lichtschein löste eine Erinnerungskaskade in ihm aus, er vergaß den Makler für einige Sekunden und tauchte selbstvergessen weg in einen Tagtraum, ein Zustand, in den er seit Wochen immer wieder verfiel.
Er träumte von einem Sonntagmorgen, drei Jahre zuvor, ferne Vergangenheit für ihn, eine Zeit, in der die Welt noch in Ordnung gewesen war. Eine Zeit, in der eine kleine Messingfigur, die Buffalo Bill an einer Gatling Gun darstellte, noch zum Kristallisationskern für fantastische Geschichten taugte. Kevin saß damals am Frühstückstisch auf seinem Schoß und wollte die Geschichte über die Wild-West-Show in Darmstadt wieder und wieder hören, und Brecker erzählte sie ihm ein ums andere Mal, schmückte sie immer weiter aus, erfand neue Nummern, dichtete Annie Oakley atemberaubende Scharfschützen-Kunststücke an, die sie nie vorgeführt hatte. Und Codys an dramatischer und abenteuerlicher Überhöhung ohnehin nicht arme Darstellung wurde von Nacherzählung zu Nacherzählung mitreißender und packender, die Büffel wurden größer, die Indianer furchterregender, die Siedler verzweifelter, die Soldaten mutiger – bis zum immergleichen, erlösenden Einsatz der Angst einflößenden Gatling Guns.
Als hätte er am Regler einer Zeitmaschine gedreht, reiste Brecker weitere vierzig Jahre in die Vergangenheit, hörte die Stimme des Maklers nur noch wie ein schwaches Echo von einem entfernten Berggipfel. Und diesmal war er es, der der Erzählung lauschte, während er bei seinem Vater auf dem Schoß saß, Friedrich Brecker, der nach 1945 zu den hundertzwanzig ersten von der US-Besatzungsbehörde handverlesenen ›kommunalen Polizisten‹ gehört hatte, die den Auftrag hatten, in der völlig zerbombten Stadt für Ordnung zu sorgen – unbewaffnet, in Zivilkleidung, am Oberarm eine Binde mit der Aufschrift ›MG-Police‹. Chaos und Anarchie herrschten in den ersten Nachkriegsmonaten zwischen den Ruinen; Raub, Einbrüche und Diebstahl waren an der Tagesordnung, der Schwarzmarkt blühte. Nicht selten standen die Ordnungshüter Displaced Persons gegenüber, die sich – aus Verzweiflung zum Äußersten bereit – illegal Waffen besorgt hatten. In Klaus Breckers Erinnerung verschmolzen diese biografischen Berichte seines Vaters mit dessen Kolportagen über Buffalo Bills sensationelle Show zu einem Amalgam, in dem Fakten und Fiktion
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