Kontrollverlust - Kontrollverlust
dreißig Grad um die Vertikalachse rotieren und brachte sie wieder in die Ausgangsposition. Anschließend beugte er sich hinunter zur Hydraulikpumpe und startete den Elektromotor. Das Laufbündel begann langsam zu rotieren, anfangs leise, mit steigender Drehzahl immer lauter, und sendete nach Erreichen der Nenndrehzahl horrende Vibrationen aus, die das ganze Geschoss zu erschüttern schienen. Verdammt, dachte Brecker. Die Läufe haben beim Transport einen Schlag abbekommen. Dynamische Unwucht. Er hätte vorher einen Test mit hoher Drehzahl machen sollen. Egal, zu spät für einen Abbruch. Alle Systeme standen auf ›go‹.
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Der Kommissar hatte Verdrängung nie als seelischen Vorgang betrachtet, der als krankhaft oder gar neurotisch klassifiziert werden konnte, sondern immer als Gabe, die einem das Leben erträglich machte, wenngleich ganze Heerscharen von Therapeuten und Psychologen mit der Aufarbeitung vermeintlicher psychischer Altlasten ihren Lebensunterhalt verdienten. Auf Rünz’ Verdrängungsmechanismen war jederzeit Verlass, sie waren spontan und zuverlässig abrufbar, bei Eheproblemen gleichermaßen wie bei beruflichen Konflikten. Außerdem hatte es sich stets bewährt, auf Herausforderungen nicht sofort mit übersteigertem Aktionismus zu reagieren, sondern erst mal abzuwarten. Ein beträchtlicher Teil der Zumutungen des Lebens löste sich in warme Luft auf, wenn man sie eine Weile ignorierte.
Natürlich war die Sache mit Brecker in gewisser Weise beunruhigend – Rünz’ Schwager hatte den Schlosser in der Todesnacht besucht, er verfügte offenbar über eine der leistungsfähigsten automatischen Waffen der Welt einschließlich der notwendigen Munition, und er war wegen seines Sohnes in einem seelisch labilen Zustand. Aber alle Männer bastelten in ihren Garagen herum, wenn sie durcheinander waren. Frauen redeten, Männer schraubten. Und warum sollte sich ein Schusswaffenfan nicht bei der Rekonstruktion einer voll funktionsfähigen und aufmunitionierten Gatling Gun entspannen? Das war doch – zumindest auf dieses Hobby bezogen – die Krönung eines Lebenswerkes! Und was die scharfe Munition betraf – die war doch einfach nur eine Frage der Ästhetik und der Vollständigkeit. Beim Kauf eines Geländewagens ging es den meisten Leuten ja auch nicht darum, das kostbare Vehikel jenseits befestigter Straßen zu bewegen. Es ging darum, dazu fähig zu sein. Und warum sah die Werkstatt aus wie Hals über Kopf verlassen? Ganz einfach – Brecker hatte seine Konstruktion fertiggestellt, konnte die drehbare Lafette in der Doppelgarage aber nicht austesten, weil der Platz nicht ausreichte. Also rauf mit dem Kram auf den Defender, um das Gerät irgendwo unbemerkt auf Herz und Nieren zu testen, bevor er es stolz den Vereinskameraden vorstellte. Und die Werkstatt stand offen, weil er in seiner Euphorie über die Vollendung seines Meisterwerkes einfach vergessen hatte, sie abzuschließen. Also kein Grund zur Panik, erst mal den Ball flach und Wedel an der kurzen Leine halten.
Blieb nur noch die Sache mit dem Schlosser, und da sah Rünz keinen dringenden Handlungsbedarf. Zumindest nicht vor morgen. Morgen hatte er ein straffes Programm vor sich – drei Termine an einem Tag, und das auch noch in Frankfurt. Am Vormittag musste er mit seiner Frau das Dalai Lama in der Commerzbank-Arena überstehen, danach wollte er auf der Buchmesse erste Verlagskontakte knüpfen. Und am Spätnachmittag stand ein Meeting mit diesem dämlichen Consultant an, der Hoven dieses haarsträubende SUSC-Konzept aufgeschwatzt hatte. Auf Rünz’ persönlicher Prioritätenliste stand natürlich die Buchmesse ganz oben. Er musste diese Nacht nutzen, seinem Manuskript den letzten Feinschliff zu verpassen. Also wieder ans Werk.
Letitia fror in der feuchten Gruft, tief unter dem Hochzeitsturm auf der Mathildenhöhe. Vince Stark legte ihr seine Lederjacke um die kaffeebraunen Schultern. Die Fackel war fast heruntergebrannt, und ein Ende des engen Ganges nicht in Sicht. Kaltes, brackiges Wasser tropfte aus dem brüchigen Mauerwerk über ihren Köpfen. Vince checkte mit seinem GPS die Position und verglich die Daten mit der alten Karte, die sein norwegischer Kollege Tore Tryggvason in der Tasche des toten Sverre Svensen auf Munkholmen gefunden hatte. Sie hätten es längst finden müssen. Plötzlich blieb Letitia stehen.
»Sieh hier, Vince. Diese Inschrift!«
Vince hielt die Fackel vor die brüchige Basaltplatte, auf die sie zeigte.
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