Kontrollverlust - Kontrollverlust
angesichts der zu erwartenden Vibrationen und dynamischen Belastungen war etwas Reserve angeraten.
Der Teufel bei dem ganzen Projekt steckte im Detail, und ohne Improvisation ging nichts. Den Drehstromanschluss für die Hydraulikpumpe, die das Laufbündel in Rotation versetzte und das Verschlusssystem in Gang brachte, musste er aus drei 220-Volt-Steckdosen zusammenschalten. Tagelang hatte er gebraucht, um die Funktion der Helixvorrichtung und des Schneckenförderbandes zu verstehen, die die Munition gurtlos von der Trommel zum Verschluss transportierte. Ein geniales System, denn die leer geschossenen Patronenhülsen wurden nicht ausgestoßen, sondern wieder in die Vorratstrommel zurück transportiert. Sauber und umweltschonend. Nachhaltig, sozusagen.
Die Glasfassade machte ihm Sorgen. Sie würde einige Streuverluste verursachen. Eine dreifache Thermoverglasung auf der Innenseite, und außen noch mal eine vorgehängte Konstruktion aus dickem Sicherheitsglas. Die Projektile würden die Konstruktion mühelos durchdringen, aber in den Randbereichen des Schussfächers waren unkalkulierbare Ablenkungen zu befürchten. Brecker hatte einige Tage darüber nachgedacht, die Fassade mit ein paar Gramm Plastiksprengstoff zu zerbröseln, kurz bevor die Gatling ihre Arbeit aufnahm. Aber das Risiko war zu hoch. Semtex oder C4 würde er nur auf dem Schwarzmarkt bekommen, zu groß war die Gefahr, kurz vor dem Ziel noch entdeckt zu werden. Außerdem hatte er keine Erfahrung im Umgang mit Sprengstoff. Wenn er es falsch anstellte, beschädigte die Detonation seinen stählernen Racheengel. Und was war, wenn er Fenster und Fassade fachgerecht zerlegte, die Gatling aber wegen irgendeines blöden Defekts nicht loslegte? Wenn unten, achtzig Meter unter ihm, Glas auf die Passanten regnete, würde ihm kaum eine Viertelstunde zur Fehlersuche bleiben, bis ein SEK-Kommando an die Tür klopfte. Nein, er würde ein paar Irrläufer in Kauf nehmen, die irgendwo südlich des Mains herunterregneten und für etwas Aufregung sorgten. Würde schon nicht die Falschen treffen.
Brecker stand auf, drückte mit dem Zeigefinger seitlich gegen das Laufpaket, und langsam, ganz langsam drehte sich die sechs Meter lange Konstruktion in dem präzise gearbeiteten Wälzlager, völlig geräuschlos, ohne jeden Widerstand. Fast zwei Tonnen Gewicht, perfekt ausbalanciert, annähernd reibungsfrei gelagert. Er musste von der anderen Seite gegenhalten, damit das schwere Laufbündel nicht gegen die Betonstütze auf der gegenüberliegenden Raumseite stieß.
Zum hundertsten Mal ging er die Berechnungen im Kopf durch, die trägen Massen, das Drehmoment des Motors, die maximale Schusskadenz und die optimale Rotationsgeschwindigkeit. Er peilte noch einmal durch das Nivelliergerät auf den SkyRise-Turm, checkte mit der Dosenlibelle die exakte horizontale Ausrichtung seiner Götterdämmerungsmaschine. Knapp unter der Raumdecke würde der Schussfächer im zweiundvierzigsten Stockwerk des SkyRise-Turmes sein Zerstörungswerk vollbringen. Alles musste beim ersten Versuch funktionieren, eine Premiere ohne Generalprobe. Brecker war erschöpft und stolz zugleich. Könnten doch sein Vater und sein Großvater dieses Meisterwerk sehen.
In diesem Moment bemerkte er die beiden Fensterputzer, die vor der Glasfassade in ihrer Aluminiumgondel heraufschwebten, in roten Overalls, wie Erzengel, mit dem Auftrag, Brecker im letzten Moment auf den Pfad der Tugend zurückzuholen. Etwas stimmte nicht mit den beiden. Der eine bewegte sich so unsicher, als würde ihm schon schwindlig, wenn er auf einem Barhocker säße, und bei dem anderen beulte sich der Overall in Nabelhöhe so aus, dass jeder Idiot sofort an eine Schusswaffe dachte. Verdammt, fluchte Brecker vor sich hin – SEK-Leute. Er hatte höchstens noch Minuten, vielleicht Sekunden, dann würden ein paar exzellent ausgerüstete Kollegen der beiden hinter ihm die Tür aufbrechen und ihn aus dem Verkehr ziehen.
Er checkte die Uhrzeit, zog sein Mobiltelefon aus der Tasche und machte einen weiteren Kontrollanruf. Seit drei Tagen das gleiche Ritual. Was war das für ein Chef, der nie in seiner Firma war? Diesmal hatte er Glück. Weilers Sekretärin war schnippisch und kurz angebunden wie immer, ihr Chef war nicht zu sprechen wie immer, wenigstens konnte er aus ihrer Absage schließen, dass der Typ im Büro war. Es konnte losgehen. Brecker kontrollierte die Munitionszuführung, ließ die Waffe auf der Lafette mit dem Servomotor einmal um
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