Kontrollverlust - Kontrollverlust
Letitia fuhr mit ihren grazilen Fingern über die verwitterte Inschrift.
»ANA PARTES AEQUALES«, entzifferte sie. »ZU GLEICHEN TEILEN.«
Sie streifte weiter mit den Fingerspitzen über die Steintafel und stieß unter dem Text auf eine kleine Vertiefung.
»Was ist das?«, fragte sie.
»Ich weiß es nicht«, antwortet Stark. »Noch nicht …«
Er zog das Fragment des zerbrochenen Siegels aus der Tasche, das Svensen bei seiner Flucht über den Trondheimsfjord verloren hatte. Es passte genau in die Vertiefung des Basaltsteines, der sich unverhofft bewegte und dahinter eine kleine, leere Aussparung freigab, die grünlich leuchtete.
»Das ist die Kammer …«, Letitia verstummte und wagte nicht, den Satz zu Ende zu bringen.
»… des Heinigen Grals«, ergänzte Stark.
»Tryggvason hatte also recht!«
»Ja, Håkon Sigurdsson muss im Jahr 952 vor Christus hier in Darmstadt gewesen sein, um den Gral zu verstecken. Und Sverre Svensen hat davon gewusst.«
»Die unheimliche Prophezeiung des Datterich …«, erschauerte sie, wieder unfähig, die grauenhafte Wahrheit auszusprechen.
»… hat sich erfüllt«, ergänzte Stark einmal mehr mit entschlossener Stimme.
»Aber wo ist der Gral jetzt?«, fragte Letitia verzweifelt.
»Es gibt nur eine Erklärung – Delgado ist uns zuvorgekommen und nutzt den Heinigen Gral als Energiequelle für seinen Plasmatronen-Fibrillator!«
Letitia unterdrückte einen Angstschrei, ihre rehbraunen Augen waren vor Schreck geweitet. »Oh mein Gott, er wird bald die ganze Stadt kontrollieren. Er wird uns alle umbringen!«
Die junge Brasilianerin zitterte vor Kälte und Furcht. Vince Stark nahm ihren zierlichen Kopf in seine kräftigen Hände und schaute ihr tief in die Augen. »Sieh mich an, Letitia. SIEH MICH AN. Ich werde es nicht zulassen. ICH WERDE ES NICHT ZULASSEN!«
Doch sie hörte ihn nicht. Sie hatte nur Augen für die pochende Schlagader an Starks Hals – und sie spürte nichts als Durst. Durst und Gier. Sie brauchte Blut.
Puh, das war starker Tobak. Großes Melodram, angesiedelt irgendwo zwischen Rosamunde Pilcher, Stephenie Meyer und Dan Brown. Aber an Letzterem, so viel stand fest, kam heute niemand mehr vorbei. Dieser ganze Sakralkitsch, die Geheimbünde und Verschwörungen, die verschlüsselten Botschaften und die heiligen Siegel in alten Grüften – all das würde er wohl oder übel in seinem Vince-Stark-Plot verarbeiten müssen. Und was nicht passte, wurde passend gemacht.
Der eine oder andere Besserwisser des Großfeuilletons würde ihm konfusen Plunder vorwerfen. Aber wer als Autor keinen Gegenwind vertragen konnte, der sollte nicht den Kopf aus dem Fenster halten. Rünz wusste, er hatte mit seinem Debüt den Regiokrimi längst an seine Genregrenzen katapultiert, vielleicht sogar ein wenig darüber hinaus. Aber wo stünde die Menschheit heute ohne Grenzgänger wie ihn? Ohne Männer, die mit offenem Visier den Aufbruch zu neuen Ufern wagten, ohne Sicherheitsnetz, Vollkasko und Sunblocker mit Schutzfaktor 50?
Formal konnte man hier und da natürlich etwas herumkritteln. Der Dialog zwischen den beiden klang ein wenig hölzern, irgendwie nach Derrick-Drehbuch. Zu offenkundig darauf ausgerichtet, den Leser auf den aktuellen Informationsstand zu bringen. Aber wenn sich zwei Protagonisten Zeug erzählten, das beide eh schon wussten, konnte man das genauso gut als Brechtschen Verfremdungseffekt interpretieren. Außerdem war es einfach sinnvoll, hier, auf Seite 749, die Vorgeschichte noch mal kurz zusammenzufassen. Für Späteinsteiger, und solche, die sowieso Probleme hatten, dem Plot zu folgen. Rünz selbst hatte ja schon alle Mühe, die Einzelfäden seines Handlungsgewebes unter Kontrolle zu halten.
Die Sache mit dem ›Heinigen Gral‹ war für Nicht-Darmstädter natürlich etwas erklärungsbedürftig, für Ortsunkundige sah das ja aus wie ein Tippfehler. Aber solche Details würde er im Glossar erklären. Rünz klebte sich zur Erinnerung einen Post-it auf das Gehäuse seines Bildschirms.
Vince Stark in dieser Szene als hemdsärmeligen Indiana-Jones-Klon zu positionieren, ging in Ordnung. Rünz musste jedoch irgendwo im Vorlauf seines Plots noch erklären, warum Letitia, eine brasilianische Hüpfdohle, die ihren Lebensunterhalt als Animierdame an einem Caipirinha-Stand auf hessischen Volksfesten verdiente, plötzlich über das Große Latinum verfügte, und sich darüber hinaus noch in eine blutrünstige Vampirette verwandelte.
Insgesamt hielt
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