Kopernikus 1
unruhig an seinem Overall. Mythili fühlte, wie ihr eigener Magen sich zusammenzog und umdrehte, als sie sich erinnerte, was mit Sekka-Olefin geschehen war. „Aber für ihn spielt das keine Rolle mehr. Und wahrscheinlich spielt es bald für niemanden mehr eine Rolle, nicht einmal für mich.“ Er stieß sich vom Pult ab, erreichte den Schacht zu den tieferliegenden Stockwerken und verschwand darin.
Worte stiegen in ihr auf und purzelten wie Perlen gegen ihre Zähne, kalt und schwer. Aber sie wandte sich wieder dem Pult zu und beobachtete das Chronometer, das die Sekunden hinwegtickte wie ein Zählwerk, das die Sterne zählte.
Das Zählwerk zählte unerbittlich weiter. Aus Sekunden wurden Kilosekunden und schließlich Megasekunden, Mythili webte Gedankengespinste, die Chaim Dartagnan, so gut es ging, ausschlossen, ihr Verstand, der ihn ignorierte, war ebenso einsam wie die Nacht, die sie durchquerten.
Doch selbst die Einsamkeit wandte sich gegen sie, sie brachte nicht den ersehnten Frieden gedanklicher Muße, sondern ließ Raum für wildwuchernde Erinnerungen, dornig und bitter. Wohl konnte sie die Vergangenheit verleugnen, auch die Gegenwart, aber niemals beides zugleich; immer deutlicher konnte sie die Ähnlichkeit dieser Reise mit der letzten sehen, die sie unternommen hatte, zusammen mit Dartagnan, dem Medienmann, und Sabu Siamang, dem Mörder. Es existierte keine Zuflucht in der Stille, keine Behaglichkeit durch Mißachtung ihrer Situation, keine Flucht aus dem Gefängnis ihres Geistes.
Sie zwang sich dazu, ihren üblichen Pflichten nachzukommen, doch bevor sie den Hauptgürtel erreichten, gab es nur wenig zu tun, und selbst diese Routinehandgriffe blieben immer gleich. Von Zeit zu Zeit gewahrte sie eine zufällige Fluktuation im Energiepegel des Schiffes, doch ihre besorgten Bemühungen, die Ursache herauszufinden, führten zu nichts, und so verlor sie es wieder aus den Augen. Sie hielt es nicht für nötig, dies in ihren kurzen Gesprächen mit Dartagnan zu erwähnen – sie sprach nur dann mit ihm, wenn es sich nicht vermeiden ließ.
Sie aß lustlos in ihrer eigenen Kabine, schlief schlecht, träumte Träume voller intensiv erlebter Schrecken, die sie auch in ihren Wachperioden verfolgten. Sie versuchte, die Bücher zu lesen, die in ihrer Privattruhe lagen – das war stets ihre Zuflucht gewesen –, doch selbst sie waren nun beschmutzt durch die Tatsache, daß einst Dartagnans Hände sie gehalten hatten, sein Geist die Seiten verschlungen und er die innersten Gedanken gelesen hatte. So ließ sie sie wieder in der Truhe verschwinden, sie haßte sie, haßte alle Männer. Sie haßte selbst ihren eigenen Vater, der in seiner Schwäche, unfähig, den Sohn zu zeugen, den er sich gewünscht hatte, ihr diese Bücher geschenkt hatte, und sie ermunterte, in eine Männerrolle zu schlüpfen, in einer Welt, die ein solches Benehmen niemals akzeptieren würde. Und allmählich glitt sie an nachgebenden Wänden tiefer und tiefer hinab in eine formlose Schwärze, wo nichts von Bedeutung war; sie wußte, sie brauchte etwas, um sich daran festzuklammern, doch fehlte ihr die Kraft, eine Hand auszustrecken und danach zu greifen.
Sie nahm alle verfügbare Kraft zusammen, um den funktionellen Akt der Nahrungsaufnahme noch einmal zu vollziehen, obwohl ihr Magen ein winziger, zusammengezogener Klumpen der Ablehnung war. Sie schlüpfte aus ihrer Kabine, in dem Vertrauen, Chaim habe die seine nicht verlassen, und ließ sich hinabfallen in den Speiseraum.
Die Quartiere der Mutter waren für zwei Personen geräumig, da sie eigentlich für eine achtköpfige Mannschaft konzipiert war. Sie schreckte vor der Einsamkeit der Hallen zurück, nachdem sie sich an die winzige Sicherheit der Gebärmutter ihrer Kabine gewöhnt hatte.
Doch als ihre Augen wieder einen Blick für die herrschenden Größenverhältnisse gefunden hatten, erkannte sie, daß sie nicht allein war. Chaim balancierte leicht auf einem Sitz an der nahen Seite des großen Tisches, der das Zentrum des Raumes ausmachte. Er wandte sich um, als sie eintrat, sein Gesicht war fast begierig. Hastig sah sie weg, aber nicht hastig genug. Ihre Füße berührten mit einem Klicken die spiegelnde Oberfläche des Fußbodens.
„Mythili …“
Störrisch wandte sie sich von ihm ab und ging zu den Nahrungsbehältern. Einem davon entnahm sie einen Container und stellte ihn in den Erhitzer, ohne auch nur darauf zu achten, was es war. „Was machst du hier?“ fragte sie aufgebracht.
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