Kopernikus 4
die Küche des Patienten mit einzuschließen. Vielleicht offenbarte die Küche etwas Tiefes und Grundlegendes über eine Persönlichkeit.
Ich ging durch den schmalen Flur voran in die Küche. Das ist ein großer gelber Raum mit ockerfarbenen Absetzungen, und wenn man hineinkommt, hat man das Gefühl, in ein Schwimmbecken hineinzutauchen, das mit gelber Flüssigkeit gefüllt ist.
„Sehr hübsch“, meinte Mitzi und fuhr mit dem Finger über die gelbe Porzellanspüle. Sie erspähte benutztes Geschirr und begann, es in die Spülmaschine zu legen.
„Das brauchst du nicht zu tun“, sagte ich verwirrt.
Mitzi lächelte wissend. „Aber ich tue es. Jetzt setzen Sie sich einfach ruhig hin und erzählen mir, was Ihnen gerade einfällt.“
Offensichtlich ein neues Verfahren, dachte ich. Behandle den Patienten wie ein Familienmitglied, und er wird wie ein solches reagieren. Ich war beeindruckt.
Ich sah ihr zu, wie sie ein paar Sachen sorgfältig in die gelbglänzenden Schränke räumte und dann die Arbeitsplatten säuberte.
„Ich war da mal in dieses Mädchen verliebt“, begann ich und putzte dabei meine Nickelbrille an meinem Hemd. „Sie war Jungfrau und das alles, ich hätte sie also ruhig heiraten können, aber sie wurde so intim. Das war falsch – ich habe ihr gesagt, daß es falsch war. Aber sie hat gesagt, wenn wir einander liebten, sei es schon in Ordnung. Aber ich kann richtig und falsch unterscheiden.“
Mitzi drehte sich zu mir um. „Der Fußboden könnte mal geputzt werden“, sagte sie und ging zu dem Reinigungsautomaten hinüber. „Heben Sie die Füße hoch.“
Ich hob die Füße und sah vergnügt zu, wie sie den Fußboden reinigen ließ.
„Warum tust du das bloß!“ rief ich und sprang auf, wobei ich ihre Hand ergriff.
Sie wandte sich von dem Automaten ab, versuchte jedoch nicht, ihre Hand aus der meinen zu ziehen. „Das ist eine meiner ersten Direktiven, Les: Sauberkeit kommt gleich nach dem Glauben.“
Ich starrte in ihre dunkelbraunen Augen, als mich plötzlich wie ein Schock die Erkenntnis durchfuhr, daß ich ihre Hand hielt. „Genau das meine ich auch“, erwiderte ich überrascht. „Es ist schön zu wissen, daß du das auch glaubst.“
„Natürlich“, gab Mitzi zurück und sah sich suchend um. „Wir wollen ins Eßzimmer gehen.“
Wir verließen die Küche durch die östliche Tür und gelangten in ein kleines Zimmer, in dem eine ganze Wand verglast ist. Der verzierte Glastisch war mit Fingerabdrücken übersät, und Mitzi, die plötzlich von irgendwoher ein Staubtuch in der Hand hatte, begann ihn zu polieren.
„Die Mädchen, die ich kenne, sind nicht so fleißig wie du“, bemerkte ich, als sie die Lampenhalterung abwischte. „Es ist so einfach, mit dir zu reden – ich fühle mich schon viel besser.“
Sie faltete das Tuch zusammen und sah dann aus dem Fenster. Die Dämmerung war angebrochen und hatte den Himmel in sanftes Rosa und Blau getaucht. Dunkel überschattete Bäume erschienen wie Skulpturen, diffuse Lampen erhellten die Gehwege.
„Es ist schön hier“, sagte ich und betrachtete die Vitrinen, die dem Fenster gegenüberstanden. Meine Skulpturensammlung, in der Hauptsache aus weißem Marmor bestehend, schimmerte im Abendlicht blau und violett.
„Jeden Abend nach dem Essen sitze ich hier und lese Zeitungen. Und während die Jahre vergehen …“
„Ich weiß, was Sie empfinden“, warf Mitzi ein. „In der Dämmerung verschwinden die Einzelheiten. Alles sieht so einfach und geordnet aus – wie erledigte Arbeiten.“
Das Staubtuch war verschwunden, und sie hielt jetzt ein Fensterleder in der Hand.
Ich mußte erst zweimal hinsehen, beschloß aber, es zu ignorieren. „So ist auch meine Arbeit, Mitzi – Kolonnen von Zahlen, die ich hereingeschickt bekomme, die alle überprüft und korrigiert werden müssen. In den zehn Jahren, die ich bei der Phonovision bin, ist mir noch nie ein Fehler unterlaufen. Wahrscheinlich, weil jeder Tag wie der andere vergeht und ich weiß, worauf ich achten muß.“
Sie lederte das Fenster mit geschmeidigen, ausholenden Handbewegungen und wandte sich dann an mich. „Sie sind nicht so wie die anderen“, sagte sie. Es lag eine Spur von Bewunderung in ihrer Stimme.
Ich betrachtete ihre Silhouette gegen das dunkle Fenster und stellte fest, daß das Leder verschwunden war. „Und du bist nicht wie die anderen Frauen, Mitzi.“
Sie sah mir gerade in die Augen. „Ich bin keine Frau, Les. Ich bin ein hochempfindliches, gut abgestimmtes
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