Kopernikus 6
sie mich nicht belogen hatte. Zum Lügen schien sie gar nicht fähig – ein braves altes Mädchen, Rückgrat des Südens, des Bodens. Ganz und gar ohne Falsch.
Ich konnte gar nicht an ihr zweifeln, und an meiner Urteilskraft auch nicht. Hier war ich und kroch holpernd einen Lehmweg in Mississippi hinunter, nachdem ich einen Tag nicht geschlafen hatte, am dünnen, ausgefransten Rande eines Traums. Ich mußte jetzt einfach Vertrauen haben.
Manchmal, wenn der Lehm sich gelockert hatte und zu Sand geworden war, rutschte das Hinterteil meines Wagens weg. Einmal blieb ein Hinterrad stecken, aber ich schaukelte mich wieder heraus. Der Rückweg würde eine Sache für sich werden. Benutzte diese Straße denn überhaupt niemand?
Der Wald drängte jetzt zu beiden Seiten herein wie ein urzeitlicher Dschungel, und der Zaun war längst verschwunden. Nach meinem Kilometerzähler war ich zehn Kilometer gefahren, und es war zwanzig Minuten her, seit ich die Hauptstraße verlassen hatte. Im Rückspiegel sah ich Schweißperlen und Schmutz in den Falten meines Halses. Eine feine Patina von Staub bedeckte das ganze Innere des Wagens. Klumpenweise kam er durch die Fenster herein.
Der Wald rückte vor und verschlang die Straße. Zweige kratzten über die Fenster und das Dach. Es war, als fiele man in einen langen, dunklen Blättertunnel. Es war finster und grün dort drinnen. Ich mußte einen atavistischen Drang, die Scheinwerfer einzuschalten, niederkämpfen. Der Untergrund des Weges mußte aus dem verrotteten Laub einiger Jahrhunderte bestehen. Ich hielt das Gaspedal gleichmäßig niedergedrückt und walzte mich hindurch.
Ein halber Baumstamm verhakte sich scheppernd und krachend unter dem Wagen. Vor mir sah ich Licht. Ich fürchtete um meine Ölwanne, aber ich trat das Gaspedal durch und schoß vorwärts.
Beinahe wäre ich durch ein Haus geschossen.
Es stand höchstens zehn Meter von den Bäumen entfernt. Die Straße endete unter einem der Fenster. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie jemand winkte.
Ich trat in die Bremsen.
Eine ganze Familie war auf der Veranda; es sah aus wie ein Walker-Evans-Photo aus der Depression. Das Haus war alt. Die abblätternde Farbe hing in meterlangen Streifen herab und wehte gegen die Regenrohre.
„Gut, daß Sie noch gebremst haben“, sagte eine Stimme. Ich sah hoch. Der größte Mann, den ich je in meinem Leben gesehen hatte, beugte sich zu meinem Seitenfenster herab.
„Wenn wir Sie früher gehört hätten, hätte ich einen der Jungs zum Ende der Zufahrt geschickt, damit er Sie warnt“, sagte er.
Zufahrt?
Er hatte braune Flecken in den Mundwinkeln. Zuerst dachte ich, er kaute Tabak, aber dann sah ich den Schnupftabakspinsel aus der Bleistifttasche am Latz seines Overalls ragen. Er hatte Hände wie ein Catcher. Sie sahen aus, als ob sie niemals etwas Kleineres gehalten hätten als den Stiel einer Axt.
„Wie geht’s?“ begrüßte er mich.
„Ganz prima“, sagte ich und stieg aus. „Mein Name ist Lindberl.“ Ich streckte meine Hand aus. Er nahm sie. Einen Augenblick lang dachte ich an Bärenfallen, Haifischrachen, Aufzugtüren. Dann verschwand der Gedanke dahin, wo sie wohl alle verschwinden mögen.
„Wohnen hier die Gudgers?“ fragte ich.
Seine grauen Augen sahen mich ausdruckslos an. Er trug eine Truckermütze und unter seinem Overall ein kariertes Holzfällerhemd. Seine Gummistiefel waren so groß wie die von Karloff in Frankenstein.
„Nee. Ich bin Jim Bob Krait. Das da ist meine Frau Jenny, und das sind Luke und Skeeno und Shirl.“ Er wies auf die Veranda.
Die Leute auf der Veranda nickten.
„Mal sehen. Gudger? Soviel ich weiß, gibt’s hier keine Gudgers. Ich bin aber noch ziemlich neu in der Gegend.“ Das sollte wahrscheinlich heißen, daß er noch
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