Kopernikus 6
nicht länger als zwanzig Jahre hier wohnte.
„Jennifer!“ brüllte er. „Kennst du jemanden, der Gudger heißt?“ Zu mir sagte er: „Meine Frau hat ihr ganzes Leben in der Gegend gewohnt.“
Seine Frau kam herunter und blieb auf der zweiten Stufe der Verandatreppe stehen. „Ich glaube, das waren die, die bei den Spradlins gewohnt haben, bevor die Spradlins da wohnten. Aber die Spradlins sind im Koreakrieg irgendwann hier weggezogen. Von den Gudgers habe ich keinen gekannt. Wir haben damals nach Water Valley raus gewohnt.“
„Sind Sie von der Versicherung?“ fragte Mr. Krait.
„Äh … nein“, sagte ich. Vor meinem geistigen Auge sah ich, wie die Leute auf der Veranda sich vorbeugten und die Ohren spitzten. „Ich bin … ich unterrichte am College.“
„Oxford?“ fragte Krait.
„Äh … nein. Universität von Texas.“
„Na, das ist ja verdammt weit weg. Und Sie sagen, Sie suchen die Gudgers?“
„Nur ihr Haus. Die Gegend. Wie Ihre Frau schon sagte, ich habe gehört, daß sie weggezogen sind. Ich glaube, während der Depression.“
„Na, dann müssen sie aber Geld gehabt haben“, sagte der riesenhafte Mr. Krait. „Niemand hier war reich genug, um während der Depression wegzuziehen.“
„Luke!“ brüllte er. Der älteste der Jungen auf der Veranda kam heruntergeschlendert. Er sah anämisch aus und trug ein Hemd, das zur Zeit des Twist in Mode gewesen sein mußte. Mit den Händen in den Taschen blieb er stehen.
„Luke, zeig Mr. Lindbergh …“
„Lindberl.“
„… Lindberl den Weg zur alten Spradlin-Farm. Bring ihn bis zur alten Holzbrücke; vorher verläuft er sich vielleicht.“
„Holzbrücke ist zusammengebrochen, Daddy.“
„Wann?“
„Oktober, Daddy.“
„Verflucht, wieder was zu reparieren! Na, jedenfalls bis zum Bach dann.“
Er wandte sich zu mir. „Wollen Sie, daß er mit Ihnen da raufgeht, damit Sie nicht von Schlangen gebissen werden?“
„Nein, ich komme bestimmt zurecht.“
„Darf ich Sie fragen, was Sie da oben wollen?“ fragte er. Er sah mich nicht an. Offensichtlich war es ihm unangenehm, daß er mich direkt hatte fragen müssen. Gewöhnlich kamen solche Sachen im Verlauf der Unterhaltung zur Sprache.
„Ich bin … Vogelkundler. Ich studiere Vögel. Wir haben … ich meine, jemand hat uns erzählt, daß auf der alten Gudgerfarm … in der Gegend hier … ich suche einen seltenen Vogel. Es ist schwer zu erklären.“
Ich merkte, daß ich schwitzte. Es war heiß.
„Sie meinen so was wie einen Liebergott? So einen habe ich vor ungefähr fünfundzwanzig Jahren mal gesehen, in der Nähe von Bruce drüben.“
„Nein, nicht ganz.“ (Liebergott war eine der Bezeichnungen für den elfenbeinschnäbligen Waldspecht, einen der seltensten Vögel der Welt. Bei jeder anderen Gelegenheit hätte ich jetzt mit offenem Mund dagestanden. Weil man geglaubt hatte, daß sie in Mississippi schon in den zehner Jahren ausgestorben wären, und wegen der Tatsache, daß Krait wußte , daß sie selten waren.)
Ich ging zu meinem Wagen, um ihn abzuschließen, und besann mich dann auf den Anstand der Situation. „Ist mein Wagen Ihnen im Weg?“ fragte ich.
„Nein. Das ist schon in Ordnung“, sagte Jim Bob Krait. „Wir erwarten Sie bei Sonnenuntergang zurück. Ist Ihnen das recht?“
Einen Augenblick lang wußte ich nicht, ob das ein Befehl oder ein Ausdruck der Fürsorge gewesen war.
„Nur für den Fall, daß mich eine Schlange beißt“, sagte ich. „Ich werde da oben vorsichtig sein.“
„Viel Glück mit den seltenen Vögeln“, sagte er und stieg zu seiner Familie auf die Veranda.
„Gehn wir“, sagte Luke.
Hinter dem Hause der Kraits war ein Hühnerstall und ein Schweinekoben. Die Schweine lagen nach ihrem morgendlichen Suhlbad da wie Inseln in einer schlammigen Bucht oder wie
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