Kopernikus 6
die Pflanzen kennen die Variationen der Zustände während der Nacht und während des Tages.
Zögernd und unaufhaltsam zugleich dringt die Wärme der aufgehenden Sonne durch seine schwere Acrylfaserjacke. Ein wohliges Gefühl breitet sich auf dem breiten Rücken aus, der unverändert gekrümmt in Position gebracht ist. Die Strahlung folgt den Rundungen der festen Haut, streicht über die Schultern und erreicht die ausgeprägten Muskelpakete der Oberarme.
Die Sehnenstränge sind angespannt, sie genießen die gelbe Wärme, die auf der Kunststofffolie der Jacke auftrifft, im changierenden Acryl ihren Glanz verliert und farblos schön wird, die sich zwischen den Muskelfasern einlagert, sie massiert und ein Gefühl von Kraft und Ausdauer verbreitet.
Er ist trainiert.
Ohne seine Stellung zu verändern, ohne sich äußerlich zu bewegen, spielt er seine Muskelfunktionen durch, prüft den Grad der Verspannung und sinkt zurück in die lauernde Aufmerksamkeit.
Er behält die Grundposition bei, die er vor Stunden eingenommen hat; kaum merkbare Variationen der Armhaltung gesteht er sich zu. Er scheint verwoben zu sein mit seiner Umgebung, scheint ein Teil der stillen Pflanzenwelt geworden zu sein, die nur der ruhigen Bewegung des Morgenwindes folgt und sich wohlig im Projektionsstrahl der Sonne badet.
Die Pilzkolonie dicht vor ihm hat ihren Feuchtigkeitsglanz verloren, der glatte Schimmer ist verdampft, die Lamellen beginnen sich zu spreizen, die Hüte entfalten sich, recken ihren Kreis dem Licht und damit zugleich dem Ende ihrer Form entgegen. In wenigen Minuten werden die zarten Feuchtgewebe verdörrt sein.
Seinem Auge entgeht nicht die geringste Veränderung, er sieht jede Bewegung, sei es ein herabsinkendes Blatt oder der flüchtige Schatten eines schwingenden Astes.
Sein Blick ist geschärft wie der eines lauernden, hungrigen Raubtieres, das nicht nur sieht, sondern mit jeder Faser seines Körpers beteiligt ist, das alle seine Sinne zusammenballt und auf die Erwartung konzentriert.
Das Dickicht hat ihn aufgenommen. Die Oberfläche der Acrylfaserjacke saugt die stärker werdende Strahlung auf und beginnt sich braun zu verfärben, beginnt die Farbe anzunehmen, die den mächtigen Stamm an seiner rechten Seite überzieht. Der Baum und der geduckte Körper verschmelzen langsam zu einer einzigen Form.
Er liegt im Anschlag.
Der schwere Kolben seiner Präzisions-Automatic preßt sich an die Schulter, doch er ignoriert den Druck und läßt seinen Blick über die Waffe gleiten, die ihm die Richtung anzeigt. Das korrosionsbeständige Metall ist eingebettet in eine rauhe Kunststoffschicht, die das auftreffende Licht absorbiert. Selbst die grellen Strahlenspitzen der aufsteigenden Sonne können nicht reflektiert werden und seinen Standort verraten. Der olivfarbene Lauf ragt zwischen den Halmfontänen hindurch. Diese glatte Form gehört von Natur aus nicht in diese Landschaft. Sie ist ein Fremdkörper, und doch wird sie widerspruchslos geduldet, weil die Blätter, die Äste, das Moos, das Gras, der Boden, weil sie sich allesamt nicht wehren können gegen das Fremde, das sich glatt und konsequent dazwischen geschoben hat.
Aus dem Verschluß seiner Waffe dringt der feine, kaum wahrnehmbare Geruch von Maschinenöl. Es ist der erfolggewohnte Duft von Genauigkeit, Bereitschaft, von äußerster Konzentration auf das Ziel.
Er denkt an das Ziel und an seinen Auftrag, denn beide sind unlösbar miteinander verbunden. Er weiß nicht, der wievielte Auftrag dieser Art es ist, den er heute, gleich, jetzt, in diesem Moment erfüllen wird. Er hat sie nicht gezählt, die vielen Male, in denen sie Kontakt aufgenommen haben zu
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