Kopernikus 6
Völker wie die Gwi.“ Doktor Stefanko setzt ein mütterliches Lächeln auf und stupst mir mit dem Zeigefinger auf die Nase. Ich werfe den Kopf zurück. Sie runzelt die Stirn. „Natürlich war es nicht möglich, ganze Stämme zu retten. Also taten die Urheber des Gesetzes, was sie für das Beste hielten. Sie retteten bestimmte Exemplare. Dich. Deine Familie. Ein paar andere wie Gai. Diese Vertreter wurden eingefroren.“
„Eingefroren?“
„Kalt gemacht.“
„So wie in der Gum-Zeil, wenn sich in den Straußenei-Kanistern Eis bildet?“
„Noch viel kälter.“
Das war also kein Traum. Ich erinnere mich, daß ich durch etwas Blaues, Glänzendes, Zerknittertes gestarrt habe. Wie Licht, das man durch eine Schlangenhaut sieht. Ich konnte mich nicht bewegen, obwohl ich im Inneren die ganze Zeit zitterte. Das ist also der Tod, hatte ich gedacht.
„ In der Zwischenzeit wurdet ihr hierher auf den Mond gebracht. Nach Carnival. Es ist ein schöner Ort. Eine wirklich internationale Einrichtung, erbaut als Wahrzeichen für die Harmonie der Völker. Hier haben wir uns bemüht, von dem, was war, das Beste neu zu schaffen.“ Sie hält inne, und ihr Blick wird scharf. „Hier wird jetzt deine Heimat sein, U“, sagt sie .
„Und Kuara?“
„Er wird hier mit dir leben, wenn es soweit ist.“ Etwas in ihrer Stimme ruft Furcht in mir wach. Dann sagt sie: „Möchtest du ihn sehen?“ Ein Teil der Furcht verschwindet.
„Ist das ratsam, Doktor?“ fragt Gai. „Der hier ist nicht zu trauen.“ Seine Augen grinsen auf mich herunter. Er starrt auf meinen Unterleib.
„Ach, das wird schon gutgehen. Du wirst doch ein braves Mädchen sein, U, nicht wahr?“
Mein Kopf nickt. Mein Herz sagt weder ja noch nein.
Die Riemen springen mit lautem Klicken auf. Doktor Stefanko und Gai helfen mir auf die Füße. Die Welt schwankt. Die Erdscheibe stellt sich schräg und schwingt hin und her. Der Fußboden neigt sich in eine, dann in die andere Richtung. In meinen Händen und Füßen kribbelt es. Mir wird in einen Stuhl geholfen. Es klickt wieder. Die Tür öffnet sich mit Zischen, und der Stuhl schwebt hinaus. Doktor Stefanko geht voran, Gai tapst hinterher. Wir bewegen uns durch einen Korridor nach dem anderen. Lauter rechte Winkel. Nichts ist krumm, bis auf die Münder von Weißen, die uns im Vorbeigehen zulächeln. Und die sind zu krumm.
Wieder zischt eine Tür. Wir kommen in einen kalten Raum. Blaues Glas, von innen bereift, erstreckt sich an beiden Wänden vom Boden bis zur Decke. Hinter dem Glas stehen eingefrorene Gestalten. Ich erinnere mich an diesen Ort. Ich erinnere mich, wie träge sich der Haß in meinem Herzen anfühlte.
„Kuara ist dort hinten“, sagt Doktor Stefanko. Ihr Atem ist weiß.
Der Stuhl schwebt näher. Meine Beine stoßen an das Glas; Kälte durchzuckt meine Knie. Der Stuhl weicht zurück. Ich lehne mich nach vorn. Durch das Glas kann ich die geschlossenen Augen meines Sohnes sehen. Seine Wimpern und Brauen sind bereift. Der Kopf lehnt zur Seite. Seine Ärmchen hängen herunter. Trotz der Kälte berühre ich das Glas. Gai zieht scharf den Atem ein und drückt meine Schultern zurück, aber Doktor Stefanko legt die Hand auf Gais Handgelenk, und er läßt mich frei. Dieses Glas gibt nach, anders als das an den Lastwagen auf dem Tsamafeld. Num steigt in mir auf. Mein Herz schlägt schneller. Num dringt in meine Arme, flutet in meine Finger. „Kuara“, flüstere ich. Wärme breitet sich auf dem Glas aus. Sie bildet einen kleinen, unregelmäßigen Kreis.
„Sobald du dich in deiner neuen Heimat eingelebt hast, kommt er hier heraus“, sagt Doktor Stefanko.
Kuara. Wenn ich nur tanzen könnte. Das Num würde in mir sieden. Ich könnte Kia machen. Ich würde die Geister der Kälte verscheuchen. Du würdest erwachen, durch das Glas treten und in meine Arme kommen.
Wenn es uns auch oft an Wasser fehlte, so waren wir doch nicht unglücklich. Die Tsama-Melonen erhielten uns am Leben. Es war ein großes Feld, und wenn wir sparsam waren, konnten wir lange Zeit auskommen, ohne zu den Wasserlöchern wandern zu müssen. Die Pfannen Garn und Gautscha waren von Weißen und zahmen Buschleuten besetzt, und ihre Bewohner, die Kung, waren zum Teil geflohen, zum Teil um des Wassers willen geblieben und arbeiteten jetzt auf den Farmen der Weißen und aßen ihre Nahrung.
Wir waren elf, manchmal auch ein oder zwei mehr. Der unverheiratete Gai war einer von denen, die kamen und gingen. Tuka pflegte zu sagen: „Man kann
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