Kopernikus 7
Sache in seinem Leben, und daran klammerte er sich mit der Verzweiflung eines Ertrinkenden.
Das Gleiten, das Kratzen in seinem Kopf, das eben jetzt noch hartnäckiger, beinahe übermächtig wurde, da er seine Aufmerksamkeit wieder darauf verlagerte. Das war doch sonderbar, oder nicht? Das war ungewöhnlich. Und es war zu ihm gekommen, oder nicht? Es gab Millionen und aber Millionen von Leuten auf der Welt, aber es hatte ihn ausgewählt – es war zu ihm gekommen. Und es war Wirklichkeit. Es war kein Traum. Er war schließlich nicht verrückt, und wenn es nur ein Traum wäre, dann müßte er verrückt sein. Also war es Wirklichkeit, und das Mädchen war Wirklichkeit. Er hatte jemanden in seinem Kopf. Und wenn das Wirklichkeit war, dann war es etwas, das noch nie zuvor irgend jemandem auf der Welt widerfahren war … etwas, wovon er noch nie gehört hatte, außer in den blöden Science-Fiction-Filmen im Fernsehen. Es war etwas, das selbst dort noch nie vorgekommen war, und es unterschied ihn von jedem anderen Menschen auf der Welt. Es war sein eigenes, ganz persönliches Wunder.
Zitternd ließ er sich in den Sessel zurücksinken. Das Leder knarrte. Dies war sein Wunder, sagte er sich selbst, es war gut, es würde ihm keinen Schaden zufügen. Die funkelnden Gefühle selbst waren gut; sie erinnerten ihn irgendwie an seine Kindheit, an stille Gärten, an Staubflöckchen, die in der Sonne tanzten, an das Meer. Er fühlte sich (und die Erinnerung wallte unglaublich lebendig in ihm auf und ebbte wieder ab) wie damals, als Sally Rogers ihm während des Nachmittagsunterrichts in der siebten Klasse hinter dem Hügel zum erstenmal erlaubt hatte, ihre fleischigen, duftenden Schenkel auseinanderzuspreizen: schwerelos, voller Angst, zitternd vor Spannung, erfüllt von irrwitziger Ungeduld. Er schluckte, zögerte, faßte Mut. Der Fernseher plapperte unbeachtet im Hintergrund. Er schloß die Augen und ließ sich fallen.
Ein Schwall von Farben verschlang ihn.
Sie wartete dort auf ihn, und dort wurde hier, als das Bewußtsein seiner physischen Umgebung versank, als sein Körper aufhörte zu existieren und nur der flüchtige Nachglanz von Bildern und freundliche, in abstrakten Mustern wirbelnde Pastellfarben die beruhigende Schwärze durchbrachen.
Sie war hier – gleichzeitig hier und sehr weit weg. Genau wie er erfüllte sie das Hier und nahm doch zugleich nicht den geringsten Raum in Anspruch – und beide Formulierungen waren gleichermaßen absurd. Sie war gegenwärtig und nichts als das: Es gab keine Bilder, keine Gestalt, nichts zu sehen oder zu hören, nichts zu berühren oder zu riechen. Dies alles war in der Welt der Zeit zurückgeblieben. Dennoch strahlte sie in gewisser Weise eine endgültige, allumfassende Weiblichkeit aus, eine archetypische Essenz, eine quecksilbrige Mischung aus forderndem Feuer und einer uralten, in der Art verwurzelten Zielstrebigkeit, so unerschütterlich und geduldig wie Eis – und er wußte, es war das Mädchen (die Frau? der Engel?) aus seinem ersten „Traum“ und niemand sonst.
Hier gab es keine Worte, aber sie waren auch nicht mehr notwendig. Er verstand sie durch Empathie, durch die klare Wahrnehmung des Gefühls, die jenseits aller Sprache liegt. Angst durchzog ihr Wesen wie eine heiße eiserne Feile, Angst und das Gefühl, unaufhörlich und verloren durch eine grenzenlose, leere Trostlosigkeit zu taumeln, umgeben von Kälte und hallendem, brüllendem Dunkel. Sie erschien heute abend näher und dennoch unvorstellbar weit entfernt. Er fühlte, daß sie sich immer noch langsam auf ihn zubewegte, noch als sie sich hier trafen und ineinander aufgingen, er fühlte, daß ihr Körper auf dem Weg, den ihr Geist
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