Kopernikus 9
Getrieben, die nicht mehr funktionierten, eine eingerostete, unbewegliche Konstruktion, die für alle Zeit ihre Hand ausstreckte, um ein Silberstück in Empfang zu nehmen.
Langsam stand Tommy auf und ging auf sie zu. Der Raum drehte sich wie rasend um ihn, die Wände rückten zusammen und wurden zu einem Tunnel, der sich unter seinen Füßen neigte und ihn unaufhaltsam auf Miß Fredricks zurutschen ließ. Seine Klassenkameraden waren verschwunden, spurlos verschmolzen mit den verschwommenen Wänden des langen, abwärts führenden Tunnels. Kein Laut war zu hören. Er stieß gegen das Pult und blieb stehen. Wortlos schrieb Miß Fredricks eine Notiz und reichte sie ihm. Tommy nahm den Zettel in Empfang und spürte, wie alles um ihn herum versickerte, alles, überall. Verloren in einem konturenlosen, grauen Nebel, hörte er irgendwo in weiter Ferne Miß Fredricks sagen: „Hier ist deine Anmeldung. Für den Psychiater. Hinaus. Sofort.“
Und dann stand er vor einer Tür mit der Aufschrift „Dr. Kruger“. Er blinzelte, unfähig, sich zu erinnern, wie er hergekommen war. Das Büro befand sich im Keller. Schwere, keramikumhüllte Wasserrohre von bedrückender Mächtigkeit hingen unter der Decke, und dünnere Metallrohre krochen an den Wänden herunter wie Kletterpflanzen oder Schlangen. Es roch nach Dampf und dunkler Eingeschlossenheit. Tommy berührte die Tür und zog die Hand wieder zurück. Dies geschieht wirklich, dachte er empfindungslos. Er blickte in dem niedrigen Gang auf und ab, und am liebsten wäre er davongelaufen. Aber es gab nichts mehr, wohin er fliehen konnte. Mechanisch klopfte er an die Tür und trat ein.
Dr. Kruger war telefonisch vorbereitet worden und erwartete ihn. Er nickte formell, winkte Tommy in einen gepolsterten Stuhl, der eine Spur zu hart war, um noch bequem zu sein, und begann, mit einer leisen, eindringlichen, monotonen Stimme auf ihn einzureden. Kruger war ein fetter Mann, dem es gelungen war, den größten Teil seines Fetts zu verstecken, es einzuzwängen und mit maßgeschneiderten Kleidern zu verhüllen und so das Land seines Fleisches mit schützenden Grenzen aus Tweed, Kammgarn und handverarbeitetem Leder zu umgeben. Selbst seine Augen waren hinter abschirmenden Brillengläsern verborgen, die so dick waren wie der Boden einer Colaflasche. Er sah aus wie ein geschrubbtes, glattes, sauberes Mastschwein, schwer, aber ordentlich, wohlgeformt und makellos gepflegt. Aber unter dieser Oberfläche lauerten wabbelnde Massen, die nur auf eine Gelegenheit warteten, in unverhüllter Schmierigkeit hervorzubrechen. Ein Hauch von potentieller Schmuddeligkeit und Aufgedunsenheit umgab ihn, eine kaum gezügelte Spannung von Dekadenz – als ob der Druck nur darauf wartete, sich unter seinen Fingernägeln zu manifestieren. Kruger vermittelte den Eindruck, daß es irgendwo in seinem Innern eine zentrale Schnur gab: Wenn man daran zöge, würde er auseinanderfallen, seine enganliegenden Kleider würden ächzend von ihm abgleiten und er würde hervorquellen, größer und größer werden, sich ausdehnen, bis er das ganze Büro erfüllte, jeden Zoll des Raumes, und die Möbel eng an die Wände preßte. Kein Zweifel: Das Fett war noch da, eingeschlossen von harten Korsetts und geduldig in der Gewißheit seines unvermeidlichen Sieges. Eine Rolle von diesem Fett war unbemerkt aus seinem Kragen gequollen, dunkel und rosig wie Schweinefleisch. Tommy betrachtete ihn fasziniert, während der Psychiater redete.
Dr. Kruger konstatierte, daß Tommy kurz davorstehe, neurotisch zu werden. „Und du möchtest doch nicht neurotisch sein, oder?“ fragte er. „Krank sein? Krank ?“
Er funkelte Tommy an; monströs pustend tat er sein Mißfallen kund, er schwoll an wie eine Kröte und drängte Tommy durch seine bloße physische Anwesenheit gegen die Lehne des Stuhles. Kruger trug gern eine ruhige, professionelle Zurückhaltung zur Schau, aber tief in ihm brannte ein gewisses schleimiges Feuer, die mörderische, gesträubte Bedrohlichkeit eines Wildschweins. Gelegentlich waren die ausgetrockneten Brunnenschächte seiner Brillengläser davon erfüllt, so daß seine Augen vom Grunde herauf tiefrot zu erglühen schienen. Und seine roten Augen huschten ruhelos hin und her, sie erspähten alles, und was sie sahen, mißfiel ihnen. Er pflegte seine Reden in einem ruhigen, gleichmütigen Tonfall zu beginnen, und dann, kaum wahrnehmbar, hob sich seine Stimme allmählich, bis sie ganz plötzlich zu einem tierischen Brüllen,
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