Kopernikus 9
schwerer fiel es ihm weiterzugehen; die Luft war wie Leim, der langsam erstarrte. Er mußte sich gegen stetig wachsende Wellen des Widerstandes vorankämpfen, und ein fühlbarer Druck versuchte ihn am Weitergehen zu hindern. Als das große graue Gebäude in Sicht kam, atmete er schwer, und er empfand ein Gefühl von Übelkeit in der Magengegend. Andere Kinder liefen an ihm vorbei und eilten die Treppen hinauf. In dumpfer Verwunderung sah Tommy ihnen nach: Wie konnten sie so schnell laufen? Sie erschienen verschwommen, so rasch bewegten sie sich – sie zuckten rings um ihn her und an ihm vorbei wie ein Wetterleuchten. Einige riefen nach ihm, aber ihre Stimmen waren zu schrill und unerträglich schnell, wie Dreiunddreißiger-Platten, die mit achtundsiebzig Umdrehungen liefen, irritierend und unverständlich. Er antwortete ihnen nicht. Er war es selbst, begriff Tommy – er erstarrte, wurde dicht und schwer und langsam. Mühsam hob er einen Fuß und kämpfte sich qualvoll die Stufen hinauf.
Als er seinen Mantel weggehängt und den größten Teil des Ganges hinter sich gebracht hatte, läutete es zum ersten Mal. Offenbar bewegte er sich also mit normaler Geschwindigkeit vorwärts, obgleich es ihm so vorkam, als wären hundert Jahre vergangen, in unerträglicher Langsamkeit. Zumindest würde er diesmal nicht zu spät kommen, aber das würde ihm kaum helfen. Er hatte den Brief nicht – seine Eltern hatten sich wieder gestritten. Sie hatten ihn früh ins Bett geschickt, und dann hatten sie den Rest des Abends in der Küche verbracht und einander angebrüllt. Tommy hatte stundenlang im Dunkeln wachgelegen und ihren harten Stimmen gelauscht, die nebenan anstiegen und wieder erstarben. Er hatte gewußt, daß seine Mutter den Brief unterschreiben mußte und daß er sie nicht darum bitten konnte. Einmal war er sogar aufgestanden, um mit dem Brief in der Hand hineinzugehen, und eine Zeitlang hatte er dagestanden, die Stirn gegen das kühle Holz der Tür gelehnt, er hatte die Stimmen gehört, ohne die Worte zu verstehen, und dann war er wieder ins Bett gegangen. Er konnte es nicht – teils, weil er Angst vor der Konfrontation hatte, Angst, ihrem Zorn gegenüberzutreten, und teils, weil er wußte, daß seine Mutter es nicht würde ertragen können; sie würde zusammenbrechen und tagelang verstört und in Tränen aufgelöst sein. Und seine Sünde – denn als Sünde empfand er es – würde die Wut seines Vaters gegen seine Mutter noch vergrößern, würde ihm einen Grund liefern, sie noch länger und lauter anzuschreien und vielleicht sogar zu schlagen, wie er es schon ein paarmal getan hatte. Tommy konnte das nicht ertragen, er konnte es nicht zulassen, selbst wenn es bedeutete, daß Miß Fredricks ihn am nächsten Tag in der Schule abseifen würde.
Er wußte, so jung er auch war, daß er seine Mutter beschützen mußte, daß er der Stärkere von ihnen beiden war. Er würde ohne ihre Unterschrift gehen und die Konsequenzen auf sich nehmen, und die Last dieses Entschlusses hatte sich in einer dichten Wolke von bitterer Angst auf ihn herabgesenkt.
Und jetzt, da der Augenblick bevorstand, fühlte er sich so benommen und schwer, daß er kaum noch Angst empfinden konnte. Dieses taube Gefühl hielt an, bis er seinen Platz gefunden und sich hingesetzt hatte; es läutete zum Unterricht, und dann sah er, daß Miß Fredricks heute morgen die erste Stunde gab und daß sie ihn direkt anstarrte. Seine Lethargie verschwand, weggespült von einer unaufhaltsamen Woge des Schreckens, und er begann zu zittern.
„Tommy“, sagte sie mit neutraler, toter Stimme.
„Ja, Miß?“
„Hast du den Brief bei dir?“
„Nein, Miß“, sagte Tommy, und umständlich begann er, die komplizierte Entschuldigung vorzutragen, die er sich auf dem Weg zur Schule ausgedacht hatte. Miß Fredricks schnitt ihm mit einer abrupten, mechanischen Handbewegung das Wort ab.
„Sei still“, sagte sie. „Komm her.“ In ihrer Stimme war jetzt nichts mehr, sie klang nicht einmal mehr neutral – alles war aus ihr verschwunden bis auf die Worte selbst, und diese hingen präzise wie gedruckt und wie leere Hülsen in der Luft. Miß Fredricks saß völlig regungslos hinter ihrem Pult, sie atmete nicht, und nicht einmal ihre Augen bewegten sich. Sie sah aus wie eine Puppe, wie die alte wahrsagende Zigeunerin in ihrem Glaskasten im Automatensalon: Ihr Fleisch war verstaubtes Schaumgummi mit einem verblichenen Überzug, und sie war voller Stahlfedern und Zahnrädern und
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