Kopernikus 9
Man konnte ja nie wissen.
Die Zeiten, als der gesamte Geheimdienst der Vereinigten Staaten von Amerika aus zwei pensionsreifen alten Knackern in einem Hinterzimmer des State Department bestanden hatte, weil der Präsident fand, „es sei eines Gentlemans unwürdig, die Briefe anderer Leute zu lesen“, waren ein für allemal vorbei. Hitlers Panzer hatten halb Europa überrollt, seine U-Boote machten den Atlantik so gefährlich wie er seit den Zeiten eines Sir Francis Drake nicht mehr gewesen war, und in letzter Zeit rasselte auch noch der Tenno vernehmlich mit dem Samuraischwert. Grund genug, die Briefe anderer Leute zu lesen, ob das nun gentlemanlike war oder nicht.
Potentiell war in solchen Zeiten jede Information wichtig, selbst die Berge von Unsinn, die der Bürobote jeden Morgen in unserem Kämmerchen ablieferte. Am Ende hatte eines unserer blinden Hühner ja wirklich einmal ein goldenes Korn gefunden, wenn ich das nach den ersten hundert Spinnerbriefen auch allmählich bezweifelte. Auch der Wahnsinn hat seine Klischees; es kann verdammt langweilig werden, sich tagaus, tagein damit beschäftigen zu müssen.
Einer unserer fleißigsten Korrespondenten war ein pensionierter Versicherungsmathematiker aus New Orleans. Er schien eine Menge Zeit zu haben; den größten Teil davon verbrachte er offensichtlich mit dem Sammeln von Zeitungsberichten über Unglücksfälle und Verbrechen. Daraus destillierte er dann komplizierte Statistiken, die er „Berichte zur Lage der Nation“ nannte und uns regelmäßig zuschickte – seitenlange Briefe voll von unverständlichen Berechnungen, penibel gezeichneten Trendkurven und endlosen Zahlenkolonnen.
Ich hielt den ganzen Kram für die typischen Produkte eines kranken Geistes – Mathematik ist sowieso nie meine Stärke gewesen –, und so steckte ich das erste halbe Dutzend „Berichte zur Lage der Nation“ schlicht in den Papierkorb zu all den anderen Erleuchtungen und Enthüllungen.
Als innerhalb von drei Wochen der siebte Brief aus New Orleans kam, klemmte ich eine witzige Aktennotiz daran und schickte ihn per Hauspost an einen Mathematiker aus der Dechiffrierabteilung, den ich flüchtig kannte. Sollten doch die wackeren Codeknacker auch mal was zu lachen haben.
Zwei Stunden später rief mich der Mathematiker an. Er druckste zuerst ein wenig herum – ganz sicher könne er sich natürlich nicht sein, er sei halt nun mal kein Statistiker, seine eigentliche Liebe gelte bekanntlich der Kombinatorik und so weiter und so weiter – aber schließlich ließ er die Katze aus dem Sack. Er hatte die Berechnungen überprüft, die ich ihm geschickt hatte, und hielt sie für zumindest theoretisch hieb- und stichfest. Wir sollten der Sache besser mal nachgehen, am besten gleich.
Also gingen wir der Sache mal nach.
Drei
„Na schön“, sagte ich, „geben wir’s doch endlich zu, daß wir einen Narren aus uns gemacht haben.“
Donovan gähnte und lockerte seine Krawatte noch ein paar Zentimeter weiter. „Zwei Narren, Steve. Du hast mich vergessen.“
„Zwei Narren, von mir aus. Deine grammatischen Spitzfindigkeiten helfen uns auch nicht weiter.“ Ich drückte meine Zigarette im längst überquellenden Aschenbecher aus und zündete mir automatisch die nächste an.
Es war halb vier Uhr morgens, jener absolute Tiefpunkt des Tages, an dem die ganze Welt für einen Moment stillzuhalten scheint wie ein Motor, der gerade eine Fehlzündung gehabt hat. Herzkranke alte Männer sterben um diese Zeit, Selbstmörder holen ihre rostigen Revolver aus der Nachttischschublade, und die verbitterten Typen in den Bierbars sind endlich betrunken genug, um die blondierte Schlampe neben sich attraktiv zu finden.
„Ich weiß nicht recht“, sagte Donovan stur. „Ich weiß nicht recht.“ Er beugte sich vor und goß mit zitternden Händen den letzten Rest Kaffee aus der Thermosflasche in seinen Pappbecher. Mit den Bartstoppeln und den dunklen Augenringen sah er aus wie ein Penner am falschen Ende einer ausgedehnten Sauftour. Ich wußte, daß ich selbst auch nicht viel vorzeigbarer wirkte. In den letzten drei Tagen hatten wir ungefähr fünf Stunden Schlaf bekommen – zusammengenommen.
„Nun laß uns doch endlich zugeben, daß die ganze Sache ein Schuß in den Ofen war“, sagte ich müde. „Wir haben einen runden Monat und ein paar tausend Dollar Spesen verplempert, um einen dicken, harmlosen Schnapsvertreter zu fangen. Wir haben ihn durch die Mangel gedreht, bis er nicht mehr wußte,
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