Kopernikus 9
andere. Irgendwo wurden die Daten der letzten Überwachungsschicht gespeichert. Besondere Vorkommnisse: keine. Normale Einsätze zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ruhe und Ordnung. Zeit für die Wachablösung.
Überall auf dem Schiff erwachte also jetzt das Leben, nur nicht in Monika. Denn Monika lag irgendwo inmitten des Parks, unter der strahlend blauen Himmelskuppel, neben einem der hohen alten Bäume, im hellgrünen Gras. Sie lag da, reglos, leblos, die Augen weit geöffnet, um vielleicht noch einmal den künstlichen Mond sehen zu können, und sie schien zu lächeln. Ihre dünnen Kleider waren vom Morgennebel durchnäßt, in ihren blonden Haaren glänzte der synthetische Tau.
Man fand sie, als die ersten Spaziergänger den Park betraten, um sich ihre tägliche Ration Natur zu holen. Man starrte sie an, blickte ihr in die offenen Augen und schwieg, bis sie abgeholt wurde. Eine Schwebeplattform kam und nahm sie mit sich fort, irgendwohin, wo Männer und Frauen in schneeweißen Kitteln sich über sie beugten, ihr die Augen schlossen und ihr doch keine Ruhe gaben. Nicht einmal jetzt, nach ihrem Tode …
„Siebenundzwanzig!“ sagte Sunka und lächelte. Dann nahm sie die letzten gelben Figuren vom Brett, bedachte Christine mit einem unverhüllt triumphierenden Blick, nippte kurz an ihrer Teetasse, um endlich dieses Spiel mit einem leicht spöttischen „Revanche?“ abzuschließen.
Christine zuckte nur mit den Schultern. Sie fand weder die Ruhe noch die notwendige Konzentration, einen passablen Skretsch-Partner abgeben zu können. Es war ihre erste Bereitschaft beim Psychologischen Gesundheitsdienst.
„Aufgeregt?“ fragte Sunka. Christine nickte und versuchte das sonst allgegenwärtige Lächeln der Zuversicht. Es fiel nicht unbedingt überzeugend aus.
„Weißt du, Mädchen, du darfst das Ganze einfach nicht so ernst nehmen. Klar, die Aufregung vor dem ersten Mal ist immer groß; diese Arbeit hier ist schließlich kein reines Vergnügen. Aber …“ – sie nahm einen Schluck aromatisierten Tee aus ihrer Kunststofftasse – „… du bist doch nicht die einzige, die diese Zeit hinter sich bringen muß. Und glaub mir: Jede hat es bisher verdammt gut überlebt, und du wirst es auch schaffen.“
„Lach mich bitte nicht aus, Sunka“, sagte das Mädchen mit den langen, dunklen Haaren zögernd, „ich habe schlicht und einfach Angst, daß ich mir zuviel zugetraut habe. Ich meine, was meine eigene Stärke betrifft. Heute nacht habe ich geträumt … von meiner ersten Aufgabe, von all den Erlebnissen und neuen Erfahrungen, und je näher der Augenblick kommt, um so mehr fürchte ich, im entscheidenden Moment zu versagen, nicht mehr die Grenze zwischen mir und einer anderen Person ziehen zu können.“
Bei diesen Worten war sie aufgestanden und an das einzige Fenster des Bereitschaftsraumes getreten. Sie hatte den fragenden Augen ihrer Freundin entfliehen wollen, hatte ihr den Rücken zugekehrt und blickte nun hinaus auf die Silhouette einer in der Novembersonne glänzenden Stadt. Man hatte sich für einen klaren Tag entschieden, ungewöhnlich klar für diese späte Jahreszeit, wo sonst Nebel und Regenschleier das alltägliche Simulationsbild beherrschten. Aber der wolkenlose Himmel und der seltene Sonnenschein fanden in ihr keinen Widerhall. Sie hatte Angst, und da konnten ihr auch die mehr oder weniger tröstenden Worte Sunkas nicht helfen.
Andererseits hatte sie irgendwann eine Entscheidung getroffen, eine Entscheidung, die ihr den Weg aus der Sinnlosigkeit und Leere ihres bisherigen Lebens ermöglichen sollte, einen Weg aus der Kälte und Enge der elterlichen Wohnung. Die Bemühungen um eine eigene Kabine waren der erste Schritt gewesen, dann die Bewerbung beim Gesundheitsdienst, schließlich die Aufnahme als Anwärterin. Zwei Jahre Dienst in allen Abteilungen würden folgen, auf allen wichtigen Stationen, letztendlich nur mit dem Ziel, nach Ablauf der Bewährungsfrist in den Psychologischen Gesundheitsdienst übernommen zu werden. Aber bis dahin war es noch ein weiter Weg.
„Christine!“ Sunka war leise an das in Gedanken versunkene Mädchen herangetreten, hatte ihr den rechten Arm um die Schulter gelegt und drehte sie nun sanft, aber bestimmt herum.
„Sieh mich an“, sagte sie und fuhr Christine über das dunkle Haar, in dem ein goldfarbener Reifen glänzte, „bin ich denn stärker als du? Habe ich denn mehr Kraft? Nein. Aber ich habe es geschafft, mich in meiner Aufgabe zu finden, mir ein
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