Kopernikus 9
Christine klappte die grüne Mappe wieder zu, holte tief Luft und betrat dann Zelle 1341. Dr. Jagu blickte nur kurz auf, wies ihr die B-Kabine zu. Worte waren nicht notwendig.
Gerne hätte sie einen Blick auf das tote Mädchen geworfen, aber es lag schon in der A-Kabine, verbunden mit unzähligen Apparaturen und elektronischen Sensoren. Niemand durfte hier eines nichtnatürlichen Todes sterben, nicht einmal ein Mädchen aus der FREEWORLD .
Christine spürte kaum, wie auch ihre Haut mit feinen Sensoren und Kabeln verbunden wurde, wie man sie anschloß an Geräte, deren Arbeitsweise und Bedeutung sie nicht annähernd kannte, denen sie jedoch ihr Leben für mindestens zwölf Stunden anvertraute. Eine Schwester im grünen Kittel der Station 13 lächelte ihr zu. Christine hoffte trotz allem, daß es ehrlich gemeint war.
„Sind Sie bereit?“ ertönte die Stimme von Dr. Jagu aus den versteckten Lautsprechern der Kabine. Christine versuchte zu antworten, aber das gelang ihr erst im zweiten Anlauf.
„Also gut. Vergessen Sie vor allem nicht, daß dieses ihr erster Einsatz ist. Bleiben Sie nach Möglichkeit nicht bis zum allerletzten Augenblick. Die Belastung könnte für Sie zu groß sein. Sowie Sie glauben, genug Informationen zu haben, kommen Sie zurück. Ist das klar?“
Das Mädchen nickte nur leicht, obwohl Dr. Jagu dieses auf seinen Bildschirmen nicht erkennen konnte. Vermutlich erwartete er sowieso keine Antwort.
Dann das langsame Verlöschen der Lichter. Stille, nur durchbrochen von dem stetigen Summen der elektronischen Apparaturen. Schließlich absolute Dunkelheit. Christine spürte das Brennen der Sensoren auf ihrer Haut, spürte, wie die Schwärze um sie herum enger, immer enger wurde, ihr die Atemluft zu rauben drohte, spürte, wie die Stille auch von ihrem Kopf Besitz ergriff, sich einschlich und ausbreitete, ausbreitete, bis sie schreien wollte, aber nicht konnte. Der Druck in ihrem Kopf wurde immer unerträglicher, feurige Spiralen wirbelten vor ihren Augen durch die Dunkelheit, und dann kam ein weiteres neues, völlig unbekanntes Gefühl hinzu: Es war, als spürte sie plötzlich die Nähe eines Etwas, ein unbeschreibbares Gefühl des Nichtmehralleinseins.
Ein helles Grün mischte sich nun in die Feuerspiralen, ein Wirbel aus Farben; jetzt auch Gelb, Blau, ein Regenbogen, der sich in unverfolgbaren Windungen und Kreisen durch ihre Gedanken zog. Ein leises Pochen und Hämmern in der Ferne, das schnell näher kam, anschwoll, im unentrinnbaren Rhythmus eines Herzens, ein Hämmern, das die Farbspiralen in seinen Bann zog, bis beide in einer Einheit aus Bild und Laut ihr Ich erfüllten.
Erste Umrisse und Konturen: Menschen, vertraute Räume, einsame Wortfetzen – Erinnerungen und Gedanken aus der Vergangenheit. Unzusammenhängende Bilder eines Lebens, das vorbei war und nur noch in der Ewigkeit existierte. Träume, Ängste, Gefühle, längst Vergessenes und Unvergeßbares in einem wilden, unentwirrbaren Reigen der Bilder.
Christine wußte, daß sie jetzt handeln mußte, daß sie sich konzentrieren mußte, um nicht in den Strudel dieser Erinnerungen gezogen zu werden und vielleicht darin umzukommen. Sie mußte den Punkt erreichen, an dem die Stabilität begann, an dem die Gedanken ihre Ordnung noch nicht in der Schwärze verloren hatten. Einen Punkt, irgendwo zwölf Stunden vor dem Tode eines Mädchens namens Monika Andergast.
Christine riß all ihre Kräfte zusammen, folgte dem Hämmern des fremden Herzens, spürte, wie sich die Erinnerungsbilder sinnvoll aneinanderzureihen begannen. Es war kein Triumph, der sie erfüllte, als sie die Stabilität erreicht hatte; es war kein Triumph, denn die Bilder vor ihr und die plötzlichen Gefühle, die auf sie einströmten, raubten ihr fast den Verstand.
Christine sah durch die Augen der anderen.
Dieses Gefühl: sich selbst nicht entfliehen können. Die Spiegel – an den Wänden, an der Decke, am Boden. Überall silberglänzende Spiegelflächen, aus denen ihr mit fataler Unentrinnbarkeit das eigene Gesicht entgegenlächelte.
Monika schloß die Augen, aber das Bild blieb. Die Umgebung war ihr zu vertraut, als daß es ihr gelingen konnte, sie einige Herzschläge lang zu vergessen. Also öffnete sie wieder die Augen, und ihr Blick blieb starr auf die Decke über ihr gerichtet. Sie fuhr sich mit der rechten Hand nachdenklich durch das zerzauste Haar. Nein, jünger wurde sie nicht, auch wenn der neue kurze Haarschnitt ihr einen Hauch von jugendlicher Frechheit
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