Kopernikus 9
Ziel zu setzen, für das es sich zu leben lohnt. Auch du mußt nur die Angst vor der eigenen Schwäche besiegen.“
Auf Christines Gesicht zeigte sich die Spur eines ehrlichen Lächelns. Es war gut, in dieser Situation nicht völlig allein zu sein, zu wissen, daß ihr jemand zur Seite stand, und sei es auch nur aus einem Gefühl der Verantwortung heraus.
Christine dachte plötzlich an die Erzählungen von der Erde, einer Erde, die sie nie gesehen hatte, an die Erzählungen von dem Ziel ihrer Reise, einer Reise ins Ungewisse. Wehmut überkam sie, aber ohne die Traurigkeit und Resignation, die sie befürchtet hatte – denn sie wußte, daß sie eine Aufgabe finden mußte, eine Möglichkeit zur Selbstbestätigung, wie es ihr Psychologischer Berater formuliert hatte. Und sie wußte auch, daß sie diese vielleicht schon bald finden würde.
Das durchdringende Heulen einer Sirene riß das Mädchen aus ihren Gedanken. Alarm. Sie spürte plötzlich wieder diese unbestimmte Angst, diese Angst vor etwas Unbekanntem, vor etwas, das nie passieren konnte und sie doch beschäftigte. Alarm. Kaum noch nahm sie die beruhigende Hand der Freundin wahr, kaum noch spürte sie deren Nähe, und ihr Blick heftete sich an die rote Lampe über der Eingangstür. Noch war sie dunkel. Aber die Alarmsirenen heulten weiter.
Angst? Warum hatte sie Angst? Hatte sie denn überhaupt Angst? Es gab doch keinen Grund dazu – jedenfalls keinen, der sich mit den Mitteln der Logik und des Verstandes hätte finden lassen.
Dann das flackernde Rotlicht über der Tür. Ihr Rotlicht. Und damit der nächste unausweichliche Schritt in ihr eigenes Leben. Auch wenn er über das Leben eines anderen führen mußte.
Ohne sich noch einmal umzusehen, trat sie hinaus auf den neonlichtdurchfluteten Korridor, folgte den grünen Leuchtpfeilen zur Station 13. Der Gang – fast menschenleer. Er führte durch den gesamten Komplex, schnurgerade mitten durch das Herz des Psychologischen Gesundheitsdienstes; er war weiß, schmucklos, und nur die zahlreichen Türen an den Seitenwänden bewiesen, daß diese ganze Anlage einem Zweck diente, der ohne die Mitwirkung von Menschen doch nicht zu erreichen war.
Christines Schritte hallten wie zerplatzende Tropfen durch die unwirkliche Stille. Ihr war, als hörte sie die verstreichenden Sekunden, die sie ihrem Ziel unaufhaltsam näher brachten. Ihr Blick war jetzt starr nach vorne gerichtet, den grünen Pfeilen folgend; weder den wenigen vorbeieilenden Menschen noch den weißen Lastenplattformen schenkte sie Beachtung.
Dann Station 13. Eine Station in Grün: Türen, Vorhänge, Tische, Stühle, selbst die Kittel des psycho-medizinischen Personals. Nur den Ärzten war das charakteristische Weiß vorbehalten. Christine wurde bereits erwartet. Dr. Schröder stand im Vorraum der Station, lächelte sie mal wieder an, und sie wußte, daß dieses Lächeln ebenso falsch war wie der sonst oft mitleidig-melancholische Ausdruck seines schmalen Gesichts. Dr. Schröder, das hatte Christine nicht nur von Sunka gehört, sondern auch selbst erfahren müssen, kannte keine Gefühle. Wenn man mit ihm zurechtkommen wollte, mußte man die eigenen Emotionen beherrschen lernen und sich auf das absolut sachlich Notwendige konzentrieren. Kurze präzise Fragen, kurze präzise Antworten.
„Die Unterlagen“, sagte Schröder und reichte ihr eine grüne Mappe, „lesen Sie die Angaben durch. Melden Sie sich dann in Zelle 1341. Dr. Jagu.“
Dann – nach einer Weile: „Ihre Zeit wird voraussichtlich zwölf Stunden betragen. Fühlen Sie sich dazu imstande?“
Christine hätte gern nein gesagt oder zumindest gezögert, um vielleicht durch einige aufmunternde Worte neuen Mut finden zu können, aber sie wußte, daß eine solche Hoffnung bei Dr. Schröder vergebens sein würde. Und sie war sich auch bewußt, was unter Umständen von ihrer Antwort abhängen konnte. Also sagte sie ja. Leise, aber bestimmt.
Auf ihrem Weg zu Zelle 1341 blätterte sie die Unterlagen durch. Vier Seiten. Wenige Zeilen. Daten. Psychogramm. Foto. Ein Name: Monika Andergast. Ein junges Mädchen, 22 Jahre alt, zweite Generation, kurze blonde Haare, volles Gesicht, das einstudierte Lächeln auf den zu roten Lippen. Größe: 169 cm. Gewicht: 70 kg. Allgemeine Ausbildung. Seit vier Jahren Dienst auf Vergnügungsdeck FREE - WORLD . Vermutliche Todeszeit: 24 Uhr. Gemeldet: 7.43 Uhr. Voraussichtliche Rücklaufzeit: zwölf Stunden. Verdacht auf Freitod.
Nüchterne Daten. Irgendwie passend.
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