Kopernikus 9
des Jägers, kämpfte sie gegen den Jäger selbst, aber auch gegen die lähmende Furcht, die ihren Verstand zu lähmen drohte. Sie bäumte sich wiederholt auf, röhrte und holte mit dem Kopf zum Schlag aus. Doch der Jäger ließ nicht los. Langsam geriet die Furcht außer Kontrolle – eine Furcht, die ihren Ursprung in ihrer Gebärmutter hatte. Sie überflutete ihren Verstand, und obwohl sie sich auch weiterhin von einer Seite auf die andere rollte, wurden ihre Bemühungen mechanisch. „Töte mich nicht, Jäger!“ schrie plötzlich ihre Gedankenstimme auf. „Töte mich nicht!“
Nassam hatte sich gerade über den Kopf des Tieres gebeugt und war bereit, den Speer in dessen Auge zu bohren, als er die Bitte der Schlammbestie empfing. Einen Augenblick dachte er, Leeani hätte ihm einen Psi-Ruf zugesandt, und daher spähte er in die Gegenrichtung, wo er sie zwischen den nächtlich schattenhaften Bäumen erwartete. Doch dann erkannte er die Quelle der Gedankenbotschaft und erinnerte sich an die Märchen seiner Kindheit, die von weisen Jägern berichteten, welche mit den Tieren sprechen konnten. Vielleicht hatten die Märchen dieses Phänomen gemeint.
Wieder durchpulste ihn die Vision, dieses Mal sogar noch lebhafter. Das Tier bewegte sich nicht mehr, sein Herzschlag pochte in Nassams Lenden. Er lockerte den Griff um die Trompete, konzentrierte sich, öffnete sein Psi und schloß die Augen.
Geistige Bilder formten sich langsam – dann rascher, bis sie zum Wirbelwind wurden. Zunächst erschreckten sie ihn, denn es handelte sich um eine Psi-Erfahrung, wie er sie bis dahin noch niemals erlebt hatte. Sein Geist wurde mit einem Chaos von Bildern erfüllt und er bemühte sich stirnrunzelnd, sie auszusortieren.
Nach und nach wurden aus den Bildern Szenen, und er durchlebte Erinnerungen, die er zu vergessen wünschte: Er sah sich selbst in einer dunklen Hütte kauern und den Tod Watablus beklagen. Er sah Ko und Matla-Opeck, deren Körper vom Schlamm bedeckt wurden, während sie langsam mit gepuderten Gesichtern und an den Körpern festgebundenen Speeren in ihre Gräber hinabgelassen wurden.
Dann aber beobachtete er etwas, was er überhaupt nicht verstand. Er und die anderen Verbannten standen am Rand einer Kuhle und beobachteten friedlich die äsenden Schlammbestien. Chola befand sich in der Gruppe, auch Bikop und Sti – und ihre Haut wies eine gesunde, braune Tönung auf.
Langsam begriff Nassam, was ihm die Schlammbestie mitteilen wollte. Wenn er ihr versprach, daß er und die anderen keine der Schlammbestien mehr jagen würden, wollte sie ihm als Gegenleistung verraten, wie sie der Seuche entgehen konnten.
Einen Augenblick lang hielt er es für unmöglich, daß er jemals ein solches Versprechen geben konnte. Er erinnerte sich an die Jagden daheim auf Styele: Eine Paledoeherde war aus einem Weizenfeld auf ihn zugekommen, als würden die Tiere ganz bewußt nach einem Pfeil verlangen. Daraufhin hatte er voller Abscheu den Großbogen niedergelegt und beschlossen, den Farmerkönig Kooba zu töten.
Doch dann erinnerte er sich auch an eine Staubwolke unter der rötlich-goldenen Sonne Styeles, einen von drei Männern besetzten Gyrojeep, den eine Frau durch die wogenden Weizenfelder auf die Stadt des Goldenen Schildes zusteuerte. Die Frau fuhr mit verkrampften Armen, ihr Haar wehte hinter ihr her, ihr Anzug aus Silberfolie reflektierte die Sonne. Er sah ihr amüsiertes Lächeln, mit dem sie den uralten Schild am Stadttor betrachtete, dessen Goldfarbe abgeblättert war, so daß man bereits das Holz darunter erkennen konnte. Ihr kindliches Kichern, als sie ihm in ihrer Paarungsnacht erzählte, daß man ihren Stamm Schwarzfuß genannt hatte, woraufhin er an ihren Beinen hinabsah. Sie hatte ihm mit ruhiger Stimme versichert, daß ihre Rasse mit seiner Kinder zeugen konnte, und dann hatte sie mit den Fingerspitzen seinen Schwanz berührt, wie eine jungfräuliche Braut, die zum ersten Mal den Körper des Gatten erkundet.
Hatte er sie damals geliebt? Wahrscheinlich. Doch zu jener Zeit hatte er sich eingeredet, daß er nur wegen des Nachwuchses mit ihr kopulierte. Liebte er sie jetzt? Ja. Aber liebte er sie genug?
Oder fürchtete er sie und den Tod? Nicht nur ihren Tod, sondern auch seinen eigenen?
Er gab das Versprechen, indem er ein Gedankenbild abstrahlte, das die Verbannten zeigte, wie sie die Speere zerbrachen. Dann fielen die Erinnerungen von ihm ab, sein Psi erinnerte an eine haltlose Wolke, die in seinem Innern
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