Kopf in der Schlinge
haben Sie denn das fertiggebracht?«
»Das erkläre ich Ihnen später. Ich komme in ein paar Minuten nach Hause. Können Sie auf mich warten?«
»Eigentlich nicht. Ich bin nur vorbeigekommen, um ein paar Sachen zu holen, die ich nachher zu Sherry bringen will.«
»Arbeiten Sie an den Wochenenden?«
»Normalerweise nicht«, sagte er. »Ich springe für jemanden ein und möchte vorher noch ein paar Dinge erledigen. Wir können uns morgen unterhalten.«
»Gut. Bis dann«, sagte ich.
Ich schloß Selmas Haustür auf und ging in die Küche. Das Haus war düster, still und unerträglich warm. Alles war mehr oder weniger so, wie ich es hinterlassen hatte, bis auf einen mit Plastikfolie abgedeckten Teller voller Brownies mit Schokoladenglasur, der mitsamt dem Hinweis Bitte zugreifen auf der Arbeitsfläche stand. Das Kondenswasser an der Folie ließ darauf schließen, daß die Plätzchen bis vor kurzem noch gekühlt oder gefroren gewesen waren. Brant mußte angenommen haben, daß die Aufforderung ihm galt, da ein Teller und eine Gabel voller verräterischer Schokoladenspuren an seinem Platz auf dem Tisch stand. Ich bedauerte, daß ich ihn verpaßt hatte. Wir hätten ein bißchen die Köpfe zusammenstecken können.
Ich ging in Toms Arbeitszimmer und setzte mich auf seinen Drehstuhl. Dann schaltete ich die Schreibtischlampe ein und begann sein Notizbuch durchzugehen. Der Einband bestand aus rissigem schwarzem Leder, das vom Gebrauch ganz weich geworden war. Außerdem hatte es Eselsohren. Ich verfuhr nach der nächstliegenden Methode, indem ich auf der ersten Seite — die vom ersten Juni datierte — begann und mich bis zur letzten durcharbeitete, die vom ersten Februar stammte, also zwei Tage vor seinem Tod. Hier waren nun endlich die acht Monate umfassenden fehlenden Notizen. Die Eintragungen auf dem dünn linierten Papier betrafen all die verschiedenen Fälle, an denen er in dieser Zeit gearbeitet hatte. Jeder war durch eine Fallnummer am linken Rand gekennzeichnet und beinhaltete Angaben über Strafanzeigen und Spurensicherung sowie Namen, Adressen und Telefonnummern von Zeugen. Anhand einer Reihe nahezu unleserlicher Abkürzungen konnte ich den Verlauf mehrerer Verhöre zu jeder einzelnen Angelegenheit verfolgen; Toms Notizen für sich selbst, seine Anmerkungen zu den Fällen, Kommentare und Fragen, die im Lauf der Ermittlungen aufgetaucht waren. In hieroglyphenartigen Zeichen las ich hier über den Fund von Pinkies Leiche und die Ergebnisse des Leichenbeschauers, Trey Kirchner, von Tom als III bezeichnet. Wiederkehrende Namen kürzte Tom meist mit ihren Anfangsbuchstaben ab. Ich fand Hinweise auf R und B, von denen ich annahm, daß sie Rafer und Toms Chef Bob Staffer bezeichneten. Durch zahlreiche Verrenkungen meiner Vorstellungskraft fand ich heraus, daß er sich von Pinkies Tod bis zu dessen Haftzeit in Chino und seiner Freundschaft mit Alfie Toth zurückgearbeitet hatte, wobei letzteres von MB vom NLSB, also Margaret Brine vom Sheriffbüro Nota Lake, bestätigt worden war. CS bezog sich wohl auf Colleen Seilers, die manchmal auch als C bezeichnet wurde und die ihn angerufen hatte, um ihm von Alfie Toth’ Haft in ST zu berichten. Ich fand die Zusammenfassung über seine Fahrt nach Santa Teresa im Juni, einschließlich Datumsangaben, Uhrzeiten, Länge der Strecke und Ausgaben für Essen und Unterkunft. Wie ich bereits wußte, hatte er am fünften Juni Dave Estes im Gramercy befragt und mit Olga Toth gesprochen, deren Adresse und Telefonnummer er ordentlich notiert hatte. Als CS wieder anrief, um ihm zu berichten, daß Toth’ Leichnam gefunden worden war, wurden Toms Notizen spärlicher. Wo er zuvor akkurat jede Einzelheit eines Gesprächs wiedergegeben hatte, äußerte er sich nun vorsichtig und benutzte vermutlich eine Art Code. Die letzte Seite mit Notizen enthielt lediglich ein paar Zahlen — 8, 12, 1, 11 und 26 — groß geschrieben, unterstrichen und mit einem Ausrufe- und einem Fragezeichen versehen. Selbst die Interpunktion ließ auf enorme Fassungslosigkeit schließen. Ich saß da und starrte auf die Zahlen, bis sie auf der Seite zu tanzen anfingen.
Ich erhob mich, marschierte in die Küche und ging dort auf und ab. Ich schenkte mir ein Glas Leitungswasser ein, trank es aus und rülpste hinterher. Dann stellte ich das Glas in die Spülmaschine und räumte in einem Anfall von Ordnungswut Brants Teller und Gabel auch hinein. Ich entließ mein Gehirn aus der Zwangsjacke und lenkte mich mit
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