Kopf in der Schlinge
ein Minenfeld ungeschriebener Regeln, die offenbar alle außer mir nachvollziehen und akzeptieren konnten. Meine Eltern waren bei einem Autounfall ums Leben gekommen, als ich fünf war, und so kam mir die Schule wie die Fortführung ebendieser Gemeinheit und ebendieses Verrats vor. Ich neigte dazu, mich ohne Grund zu übergeben, was mich weder beim Hausmeister noch bei den Klassenkameraden in meiner Nähe beliebt machte. Ich kann mich heute noch an das Gefühl gerade ausgestoßener, heißer Säfte erinnern, die sich in meinem Schoß sammelten, während rechts und links von mir die Schüler angewidert davonstoben. Weit davon entfernt, mich zu schämen, empfand ich eine klammheimliche Befriedigung, die Macht des Opfers, das seine Rache über die Verdauung ausübt. Jedesmal wurde ich zur Schul-Krankenschwester geschickt, wo ich mich auf eine Ottomane legen konnte, bis meine Tante Gin mich holen kam. Zur Mittagszeit bat ich (bevor ich lernte, nach Belieben zu kotzen) oft darum, nach Hause gehen zu dürfen, versprach, nach rechts und links zu sehen, wenn ich über die Straße ging, und nicht mit Fremden zu sprechen, auch wenn sie mir Süßigkeiten anboten. Meine Lehrer lehnten die klagende Bitte regelmäßig ab, und so war ich zum Bleiben gezwungen; ängstlich, beklommen und zu klein geraten, kämpfte ich gegen die Tränen an. Als ich acht war, lernte ich, nicht mehr zu fragen. Ich ging einfach, wenn es mir paßte, und stand hinterher die Folgen durch. Was wollten sie denn machen — mich kaltblütig erschießen?
Der Eingang zum Gemeindezentrum führte in einen breiten Korridor, der als Empfangshalle diente und gerade renoviert wurde. Aktenschränke und Lagerregale waren auf die nicht mit Teppich ausgelegte Fläche gestellt worden. Die Wände waren mit irgendeinem undefinierbaren Holz getäfelt, die Decke ein niedriges Gitterwerk aus Schalldämmplatten. Teile des Flurs waren durch Leitkegel abgeteilt, die untereinander mit Plastikband verbunden waren, und handgeschriebene Schilder wiesen zu den derzeitigen Räumen verschiedener umgesiedelter Behörden.
Ich fand die Außenstelle des Sheriffbüros. Sie war klein und bestand aus mehreren zusammenhängenden Räumen, die aussahen wie die »Vorher«-Fotos in einer Einrichtungszeitschrift. Die Leuchtstofflampen trugen wenig dazu bei, die Atmosphäre zu verbessern, die aus einem Kuddelmuddel aus technischen Handbüchern, Wandplakaten, glänzender Holztäfelung, Büromaschinen, Drahtkörben und an sämtlichen glatten Flächen haftenden Notizen bestand. Die Schreibkraft war eine Frau Mitte Dreißig, die Laufschuhe, Jeans und ein blaues Sweatshirt über einem weißen Rollkragenpullover trug. Ihr Namensschild identifizierte sie als Margaret Brine. Sie hatte kurzgestutztes schwarzes Haar, eine ovale Brille mit schwarzer Fassung und zahlreiche Sommersprossen unter ihrem Puder und dem Rouge. Ihre Zähne waren groß und quadratisch und standen deutlich sichtbar auseinander.
Ich holte eine Visitenkarte heraus und legte sie auf den Tresen. »Ich wollte fragen, ob ich Rafer LaMott sprechen könnte.«
Sie nahm meine Karte und musterte sie kurz. »Weiß er, worum es geht?«
»Der Leichenbeschauer hat mir empfohlen, mit ihm über Tom Newquist zu sprechen.«
Für einen kurzen Moment trafen sich unsere Blicke. »Warten Sie bitte«, sagte sie und verschwand durch eine Tür nach hinten, die vermutlich in die anderen Büros führte. Ich konnte ein Murmeln hören, und kurz darauf erschien Rafer LaMott, der soeben in ein braunkohlefarbenes Sportsakko schlüpfte. Er war Afroamerikaner, etwa Mitte Vierzig, gut einsachtzig groß, hatte einen karamelfarbe-nen Teint, kurzes schwarzes Haar und faszinierende haselnußbraune Augen. Bis auf einen schmalen Schnurrbart war er glattrasiert. Die Falten auf seiner Stirn ähnelten parallel verlaufenden Narben in feinem Leder. Das Sakko über seiner schwarzen Gabardinehose sah aus, als wäre es aus Kaschmir. Sein Hemd war blaßbeige und die Krawatte von sanftem Braun mit einem Muster aus schwarzen Büroklammern, die in diagonalen Reihen auf und ab verliefen.
Er hielt meine Karte in der Hand und las in leicht hochnäsigem Tonfall die darauf abgedruckten Daten ab. »Kinsey Millhone, Privatdetektivin aus Santa Teresa, Kalifornien. Was kann ich für Sie tun?«
Ich spürte ein Prickeln im Nacken. Rafers Gesichtsausdruck war unverbindlich. Genaugenommen war er nicht unhöflich, aber er war alles andere als freundlich, und ich merkte seiner Art an, daß er mir
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