Kopf Unter Wasser
Bilder, die sie gemalt hatte, und Henry merkte, wie viel von ihrem Leben er verpasste. Andererseits war er ihr durch Birtes Auszug nähergekommen, als es innerhalb ihrer sogenannten Kleinfamilie je möglich gewesen wäre. So wie er gezwungen war, den Haushalt allein zu machen, was schneller und unkomplizierter ging, so war er auch gezwungen, sich die zwei, drei Tage, die sie bei ihm lebte, allein um Johanna zu kümmern. Er musste sich auf sie konzentrieren, er konnte das Spielen, die Erziehung, das Zubettbringen nicht mehr nebenbei erledigen, wie vorher, als Birte noch da gewesen war, und trotzdem gingen ihm auch diese Sachen leichter von der Hand. Er musste sich mit niemandem einigen, auf keinen gemeinsamen Nenner kommen, der ohnehin immer nur der kleinstmögliche war, mithin meist ein fauler Kompromiss. Das, was man als Kleinfamilie wahrnahm, befand man sich selbst darin, entpuppte sich als Konsenshölle , war man wieder herausgefallen und warf aus der Distanz einen Blick zurück.
Spätestens nach einer Stunde in Birtes Wohnung wurde Henry nervös. Er ging dann ins Treppenhaus, öffnete ein Fenster, zündete sich eine Zigarette an und überlegte, wie er sich am besten von Johanna verabschieden konnte, förmlich mit Umarmung und Kuss oder beiläufig, als gehe er nur kurz zum Briefkasten und komme gleich wieder. Er fragte sich, ob Johanna weinen oder lediglich enttäuscht gucken würde, wie sie es meistens tat. Es sah dann aus, als hätte jemand einen Schalter umgelegt. Das Lachen fiel ihr plötzlich aus dem Gesicht, die Mundwinkel zuckten, die Augen flackerten und füllten sich mit Wasser, aber sie weinte nicht, vielleicht auch, weil Birte ihr klar machte, dass es Quatsch sei, zu heulen.
Johanna sagte dann zum Beispiel so etwas wie, dass sie Angst habe vor dem Mann im Parterre, weil der immer betrunken sei und herumschreie. Der sei böse, sagte sie und umklammerte Henrys Hand, dem nicht mehr einfiel, als zu sagen, dass sie keine Angst zu haben brauche, dass er sie vor dem bösen Mann beschützen werde und dass er sie schon in vier Tagen wieder aus dem Kindergarten abholen werde. »Vier?«, fragte Johanna dann, und Henry merkte, dass ihr Körper zu beben anfing, und er merkte auch, dass Birte, die neben ihnen in der Tür stand, unruhig wurde, und er zählte für Johanna mit den Fingern die Zahl ab: eins, zwei, drei, vier â Sonntag, Montag, Dienstag, Mittwoch, und Birte sagte, dass sie endlich mal zum Schluss kommen sollten.
Henry löste vorsichtig seine Hand aus Johannas, und während er sie umarmte und ihr über den Kopf streichelte, merkte er, dass sie immer noch bebte, er merkte, dass sie schluckte, dass sie gegen die Tränen kämpfte und dass sich ihre Arme an seinen Hals pressten, und er hörte Birte sagen, dass Johanna jetzt endlich Tschüss sagen solle, und Johanna sagte Tschüss, und Henry kramte eine Zigarette aus seinem Mantel und stürzte die Treppe hinunter und hörte noch, wie Johanna »Papa« hinter ihm herrief, bevor Birte sie in die Wohnung zog und die Tür ins Schloss fiel.
Henry lief, ohne sich umzusehen, über den Hof, und erst drauÃen auf der lauten StraÃe hielt er kurz inne, um die Zigarette anzuzünden, die zwischen seinen Lippen klemmte.
Es war nach einem dieser Samstagnachmittage, dass er zum ersten Mal statt der einen Flasche Wein am Abend zwei trank.
24.
Trotz allem bemühte sich Henry, die Contenance zu bewahren, so wie es die Paranoiker aus dem Männerforum empfahlen, und es gelang ihm relativ problemlos, fast ein Jahr hindurch, bis er an einem Februartag gegen halb neun abends â er kam aus dem Supermarkt â zufällig Birte auf der regennassen StraÃe traf. Sie kam ihm, leicht gegen den Wind gebeugt, entgegen, den Mantelkragen hochgeschlagen, die Hände in den Taschen vergraben. Und sie war nicht allein, an ihrer Seite ging ein Mann, der einen Kopf gröÃer war und jünger aussah als sie, der einen Arm um ihre Schulter gelegt hatte und mit der anderen Hand ein Fahrrad schob. Er sah aus wie ein Student, trug Jeans, einen Parka und eine schwarze Wollmütze.
Henry blieb stehen, nachdem er Birte erkannt hatte. Er wollte sich schon umdrehen und weggehen, als er Johanna sah, die hinter den beiden hertrottete. Sie lief im Schneckentempo, mit hängenden Schultern. Die Kapuze des Anoraks war ihr halb vom Kopf gerutscht, und Henry bemerkte im Licht der
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