Kopf Unter Wasser
Nuance. Trotzdem nahm er sich vor, das Gespräch durchzuhalten: »Und mit Mama.«
»Nein«, sagte Johanna, »nur mit Flo.«
» Ohne Mama?«, fragte Henry.
» Nur mit Flo.«
»Wann war denn das?«, fragte Henry, bemüht, den scherzhaften Tonfall beizubehalten.
»Nach dem Kindergarten.«
»Gestern?«
Sie wisse es nicht mehr, sagte Johanna.
»Hat dich Flo vom Kindergarten abgeholt?«
»Ja«, sagte Johanna, »Mama habe es erlaubt und einen Zettel mitgegeben für die Erzieherin.«
»Zum ersten Mal?«
»Nein«, sagte Johanna.
Im Spielzeugladen kaufte Henry einen Plüschhamster und eine groÃe Windmühle, die er später am Balkongeländer befestigte. Nach dem Abendbrot sahen sie sich den Sandmann an, spielten mit Johannas Prinzessinnenschloss, und vor dem Einschlafen las Henry ihr eine Bilderbuchgeschichte vor.
Als Ruhe eingekehrt war, machte er sich eine Flasche Wein auf. DrauÃen war es noch hell, die Leute auf der StraÃe waren ausgelassen und ein wenig aufgedreht, des lauen Abends wegen oder weil sie sich auf die bevorstehenden Ferien freuten, vielleicht auch aufgrund der FuÃballweltmeisterschaft, die gerade stattfand. Möglicherweise waren sie unterwegs zu einem der öffentlichen Plätze, wo auf GroÃleinwänden das Spiel des Abends übertragen wurde. Henry saà auf dem Balkon, rauchte und trank Wein. Er hörte die Leute, die unten vorbeigingen. Sie redeten und lachten. Er sah auf die Windmühlenflügel, die sich ratternd in Bewegung setzten, wenn ein warmer Windstoà sie erfasste.
Aber seine Gedanken waren finster und wurden umso dunkler, je weiter die Zeit fortschritt, je mehr er die Szenen, die er sich vorstellte, mit Details ausschmückte, je mehr die Dämonen, die er heraufbeschwor, an Kontur gewannen. Es ging um Birte und Flo und um Finn, dessen blöde, blonde Kindlichkeit die beiden benutzten, um Johanna auf ihre Seite zu ziehen und sie Henry zu entfremden. Und es ging um diese Erfindung , die Ergebnis von Betrug und Verrat war, von Verzagtheit, Geldgier, von Staatsgläubigkeit und einem Egoismus, der sich als Streben nach persönlicher Freiheit tarnte, eine Erfindung, die eine verworfene Gesellschaft als Alternative zum angeblich Reaktionären der Tradition hochjubelte, als modern und urban und fortschrittlich pries, es ging um das, was Zeitungen Patchworkfamilie nannten, eine Behelfskonstruktion, bequem für die, die sich in ihr zusammenfinden konnten, die Hölle dagegen für die anderen, die Ãbriggebliebenen, zu denen sich auch Henry seit diesem Tag zählte.
Er konnte deutlich das Ende sehen, das bevorstand: Birte und Flo würden über kurz oder lang zusammenziehen, sie würden ein drittes Kind bekommen, ein gemeinsames Kind, einen symbolischen Grundstein für ihre neue Flickenfamilie.
Es war schon nach Mitternacht, als Henry Birtes Nummer wählte.
Sie klang schlaftrunken, als sie fragte, ob etwas mit Johanna nicht in Ordnung sei.
»Ich will das Sorgerecht«, sagte Henry, ohne ihre Frage zu beantworten.
»Du bist betrunken.«
»Das spielt keine Rolle, ich will das Sorgerecht.«
»Ich bin doch nicht blöd, du bekommst das Sorgerecht nicht.«
»Ich besteh drauf, sonst â¦Â«
» Was sonst?«
»Sonst kannst du dich in Zukunft allein um Johanna kümmern.«
»Das ist doch nicht dein Ernst. â Lass uns morgen noch mal reden.«
»Morgen gibtâs dazu nicht mehr zu sagen als jetzt.«
»Du willst also Johanna nicht mehr sehen ?«
»Ich will das Sorgerecht «, sagte Henry, »und natürlich will ich Johanna sehen, am liebsten jeden Tag.«
»Zum letzten Mal: Du bekommst das Sorgerecht nicht.«
»Dann gilt das, was ich eben gesagt habe.«
»Dass du Johanna nicht mehr zu dir nimmst?«
»Ja.«
»Und wie willst du ihr das erklären?«
»Keine Ahnung«, sagte Henry. Es entstand eine kurze Pause.
»Du denkst, dass ich es alleine nicht schaffe mit Johanna, hab ich recht?«
»Und wenn schon.«
»Du sitzt am kürzeren Hebel, Henry, und ich denke wirklich, dass du zu betrunken bist, um eine solche Entscheidung zu fällen. â Ich gebe dir bis Dienstag Zeit, das zurückzunehmen. Ruf mich an, schreib mir eine E-Mail, was auch immer.«
»Bis Dienstag wird sich nichts ändern. â Gib mir das Sorgerecht, und alles bleibt, wie es war«, sagte Henry und
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